Polen wählt seinen Präsidenten. Gewinnt der EU-feindliche PiS-Kandidat - derzeit auf Platz 2 -, so kann er Gesetze per Veto blockieren. Gefährlich für Europa, denn Polen wird als starke Kraft immer wichtiger. Warum, erklärt Osteuropa-Experte Tomislav Delinić ntv.de.
ntv.de: Herr Delinić , falls Polen heute bereits im ersten Wahlgang einen neuen Präsidenten wählt, ist der dann in etwa so mächtig wie Donald Trump in den USA? Kann der über Dekrete allein regieren?
Tomislav Delinić: Nein. Wir sind nach wie vor in einem parlamentarischen System mit traditionellem Verhältniswahlrecht. Der Sieger dieser Wahlen kann anschließend nicht wie der US-Präsident mit Dekreten direkt regieren und gestalten. Aber er kann verhindern, dass überhaupt regiert wird. Und wie wir sehen, kann er das ganz massiv.
Welchen Hebel nutzt er dazu?
Er verweigert die Unterzeichnung von Gesetzen. Dadurch kann der Präsident aktiv in die Tagespolitik eingreifen, denn er muss jedes Gesetz unterzeichnen, damit es in Kraft treten kann. Andrzej Duda, der als derzeitiger Präsident aus der oppositionellen PiS kommt, kann die Regierung in vielerlei Hinsicht fast lahmlegen. Er nutzt diese Möglichkeit bei Gesetzesvorhaben vom kleinsten Thema bis etwa zu tiefgreifenden Reformen des Sozialsektors, bis zur Rentenreform. Der Präsident kann blockieren, dann liegt das brach, und zwar über Monate. In einzelnen Fällen kann er Gesetze zudem dem Verfassungsgericht zur Prüfung vorlegen.
Das Parlament kann seine Blockade nicht lösen?
Die Regierung könnte die Verweigerung zur Unterschrift theoretisch umgehen, wenn sie das Gesetz mit einer Drei-Fünftel-Mehrheit durch das Parlament bringt, also mit deutlich mehr Stimmen als der Absoluten Mehrheit von 50 Prozent plus. Aber welche Regierung hat dieser Tage eine so deutliche Mehrheit? Die polnische Regierung hat sie derzeit nicht.
Auch nach außen hat der polnische Präsident mehr Einfluss als etwa Frank-Walter Steinmeier in Deutschland, oder?
Als oberster Befehlshaber der Streitkräfte repräsentiert er Polen im Ausland, und das ist zum Beispiel sehr relevant in Nato-Fragen. Da kann er stark agieren. Das wichtigste Argument, das die Macht des Präsidenten unterstreicht in den Augen der Bevölkerung: Er ist der einzige höhere Staatsvertreter, der direkt vom Volk gewählt wurde. Dieses Direktmandat der Menschen ist ein ziemliches Gewicht, dass der Präsident in die Waagschale legen kann. Das macht die Wahl heute so wichtig. Es geht um die Frage, ob die jetzige polnische Regierung von Premier Donald Tusk in Zukunft überhaupt handlungsfähig sein wird.
Mit welchen Gesetzen ist Tusk schon an Präsident Duda gescheitert - als Beispiel?
Duda kündigte sein Veto gegen das Begleitgesetz zum Haushalt 2024 an, das unter anderem drei Milliarden Złoty für öffentlich-rechtliche Medien vorsah. Er blockiert gegenwärtig ein Gesetz zur rezeptfreien Abgabe der "Pille danach", ebenso ein Gesetz, das die Kommission zur Untersuchung russischen Einflusses abschaffen sollte.
Wie waren die letzten Umfragewerte kurz vor der Wahl?
Ein Kandidat muss die Absolute Mehrheit erringen, also 50 plus Prozent auf sich vereinigen. Das ist meistens in der ersten Runde nicht realistisch. Wir gehen davon aus, dass nach den aktuellen Umfragewerten der Kandidat der Tusk-Partei, Rafał Trzaskowski, in die zweite Runde einzieht. Er ist der Warschauer Oberbürgermeister und liegt aktuell bei 32 Prozent oder mehr. Der Konkurrent für die Stichwahl in zwei Wochen wäre voraussichtlich der von der PiS ins Rennen geschickte Karol Nawrocki. Er liegt knapp sechs Prozentpunkte dahinter, also bei etwa 26 Prozent Zustimmung. Der Rest verteilt sich auf etliche Akteure. In zwei Wochen kommt es darauf an: Wer stellt sich in der zweiten Runde auf wessen Seite?
Nawrocki ist ein junger Historiker und Trump-Fan, dem man Verbindungen in die polnische Neonazi-Szene und ins Zuhältermilieu nachgewiesen hat. Spielt das im Wahlkampf eine Rolle?
Solche Skandale schrecken an sich eher gemäßigte Wähler ab, mobilisieren aber gezielt radikale Milieus - was ihm paradoxerweise sogar nutzen kann. Der Wahlkampf ist politisch inhaltsleer. Da geht es tatsächlich sehr stark um persönliche Attacken, das ist persönlich diffamierend, eine Schlammschlacht. Das ist bedauerlich zu sehen. Am Ende hat es auch zur Folge, dass die Leute sich immer mehr von der Politik abkehren oder Politiker wählen, die zu extremen Positionen neigen.
Für Europa wird es immer wichtiger, politisch eng zusammenzuarbeiten. Mit Donald Tusk hat das, zum Beispiel beim Besuch des französischen, britischen und deutschen Regierungschefs in Kiew vor einer Woche sehr gut funktioniert. Würde das durch einen wie Nawrocki gefährdet?
Ja, und die stark polnisch Nationale Haltung Nawrockis hat auch eine antideutsche Komponente. Für mich ist es immer wieder überraschend, wie scharf dieses antideutsche Element noch ist. Rafał Trzaskowski , der ja selbst Abgeordneter war im Europäischen Parlament und also ein Europa-Experte ist, wird dann von der PiS-Partei als deutscher Agent bezeichnet. Seine Partei Bürgerplattform sei stark aus Deutschland beeinflusst. Das sind Narrative, die in der Breite des Landes greifen.
Nun versucht die neue Bundesregierung, die Grenzen auch nach Polen gegen Migration dicht zu machen. Kommt das zur Unzeit für diese Wahlen?
Viele Polen sehen das so: Die Deutschen schicken ihre Migranten zurück, dabei haben sie das Problem selbst verursacht. Wir Polen hingegen halten die Ostflanke dicht. Warum lassen die uns da so im Stich?
Selbst bei der Pressekonferenz von Merz und Tusk kürzlich hat auch Donald Tusk klar angesprochen, dass er eine europäische Lösung sucht. Dieses Thema verleitet sehr dazu, diese antieuropäische und antideutsche Debatte aufzumachen.
Dabei könnte Polen in Europa eine starke Rolle spielen. Mit Blick auf den Verteidigungshaushalt und die eigene Wehrhaftigkeit sind die Polen Deutschland weit voraus, oder?
Wenn auch der neue Präsident die Regierung weiter blockt, bleibt Polen liegen und wird seine Rolle in Europa nicht gestalten können. Das wäre umso tragischer, denn Europa braucht diesen Impuls. In der Sicherheitspolitik sehen wir das: Die Polen stehen seit Jahren jetzt stramm an der Seite der Ukraine. Die tun alles, um zu mobilisieren. Sie investieren enorm viel Geld und zeigen auch gesellschaftliche Resilienz, also die Bereitschaft, sich wieder militärisch ausbilden zu lassen. Das hat eine ganz andere Dimension als in Deutschland. Und es gibt noch eine weitere Komponente, die oft übersehen wird.
Welche wäre das?
Polen und auch andere osteuropäische Länder boomen wirklich. Polen geht in Richtung vier Prozent Wirtschaftswachstum. Aber es boomt nicht nur mit wirtschaftlichen Faktoren, sondern vor allem im Mindset, in der Haltung. Das ist ein digitaler Mindset, der aufbrechen und gestalten will. Bürokratie ist digital. Soziale Leistungen, medizinische Rezepte - all das ist digitalisierter Standard. Während Deutschland nach solchen Lösungen zum Teil noch sucht, herrscht in Polen so etwas wie Gründerstimmung. Die wollen einfach machen, und davon kann Europa profitieren.
Mit Tomislav Delinić sprach Frauke Niemeyer
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