Österreichs Verteidigungsministerin Klaudia Tanner von der konservativen ÖVP hat ein weitläufiges Büro im obersten Stockwerk der Kaserne Rossauer Lände, direkt am Donaukanal in Wien. „Bitte, setzen Sie sich, wohin Sie wollen“, sagt die 55-jährige Juristin.
WELT: Frau Ministerin, die Friedensbemühungen für die Ukraine laufen auf Hochtouren. Würde sich Österreich gegebenenfalls zusammen mit anderen westlichen Ländern an einer Koalition der Willigen beteiligen, die in der Ukraine den Frieden sichert?
Klaudia Tanner: Das Bundesheer hat in sechs Jahrzehnten gezeigt, dass wir durchaus bereit und natürlich auch in der Lage sind, uns an robusten internationalen Einsätzen zu beteiligen. Im konkreten Fall einer Friedensmission in der Ukraine käme es darauf an, wie das Mandat genau aussieht, welche Möglichkeiten sich für unseren Einsatz ergeben könnten und ob unsere Expertise überhaupt gefragt ist. Aber ich schließe nicht aus, dass wir uns an einer Friedenssicherung in der Ukraine beteiligen, wenn es dazu kommen sollte.
WELT: Ist Österreich bei den bisherigen Gesprächen einer Koalition der Willigen, die von Großbritannien und Frankreich angeführt wird, dabei?
Tanner: Bisher noch nicht.
WELT: Österreich will künftig militärisch deutlich stärker werden. Unter Ihrer Führung wurde der sogenannte Aufbauplan 2032+ des Bundesheeres verabschiedet. Was bedeutet das?
Tanner: Wir wollen vor allem in drei Bereichen investieren: bei der Kasernen-Infrastruktur, bei der Mobilität zu Land, Wasser und Luft – wobei dabei der Kauf von Luftabwehrraketen für lange und mittlere Reichweiten einen Schwerpunkt bildet – und der Ausstattung der Soldaten mit Waffen, Schutzausrüstung und Kommunikationsmitteln.
WELT: Österreich gehört nicht der Nato an und ist nicht dem Ziel verpflichtet, mindestens zwei Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP) in Verteidigung zu investieren. Will die schwarz-rote Regierung das Ziel trotzdem erreichen?
Tanner: Wir waren eigentlich so disponiert, dass wir in sieben Jahren 1,5 Prozent des BIP für Verteidigung ausgeben wollten. Die neue Regierung hat dieses Ziel für 2032 auf zwei Prozent hochgeschraubt. Wir haben es bei den aktuellen Budgetverhandlungen geschafft, unser Verteidigungsbudget für die nächsten zwei Jahre zu sichern, und wachsen darüber hinaus noch an. Im Jahr 2025 erreichen wir 1,17 Prozent des BIP und im Folgejahr bis zu 1,25 Prozent, gemessen am Vorjahres-BIP.
WELT: Ist das nicht trotzdem zu wenig?
Tanner: Österreich ist ein neutrales Land. Sie müssen berücksichtigen, woher wir kommen. Als ich im Januar 2020 als Verteidigungsministerin angetreten bin, lagen die Verteidigungsausgaben bei 0,54 Prozent der Wirtschaftskraft.
WELT: In der Verfassung Österreichs ist festgelegt, dass das Volk gegen jeden militärischen Angriff zu schützen ist. Kann das gelingen?
Tanner: Fakt ist, dass wir in der Vergangenheit vergessen haben, die Neutralität mit allen gebotenen Mitteln zu verteidigen. Das wollen wir jetzt nachholen. Österreich muss wieder verteidigungsfähig werden. Das haben wir jahrzehntelang vernachlässigt – so wie andere Länder auch.
WELT: Haben Sie keine Sorge, dass Österreich als neutraler Staat bevorzugt von Russland angegriffen werden könnte, um den Westen zu testen?
Tanner: Nein, diese Sorge habe ich nicht, solange wir hart daran arbeiten, verteidigungsfähig zu werden. Dass wir laut Verfassung ein neutraler Staat sind, wird uns nicht schützen. Was uns schützt, ist ein modern ausgerüstetes Bundesheer.
WELT: Das Bundesheer wird die Verteidigung aber möglicherweise allein nicht schaffen. Kann sich Österreich darauf verlassen, im Fall eines Angriffs von den europäischen Partnern verteidigt zu werden gemäß Artikel 42,7 der EU-Verfassung?
Tanner: Davon gehe ich aus.
WELT: In Brüssel wird Österreich manchmal vorgeworfen, sich hinter der Neutralität zu verstecken und ein Trittbrettfahrer zu sein.
Tanner: Trittbrettfahrer? Das tut mir in der Seele weh, weil man damit unseren Soldatinnen und Soldaten Unrecht tut. Neutralität heißt ja nicht Gleichgültigkeit. Wir haben rund 1200 Soldaten in internationalen Einsätzen. Das ist, etwa im Vergleich zu Deutschland, sehr viel. Wir unterstützen die Ukraine, finanziell und humanitär. Und natürlich wären wir auch bereit, dabei mitzuhelfen, einem angegriffenen EU-Partner gemäß Artikel 42,7 Beistand zu leisten. Wenn es so weit wäre, werden wir natürlich überlegen, ob und wie wir unseren Beitrag leisten können. Das kann beispielsweise auch im Rahmen einer medizinischen und humanitären Unterstützung passieren.
WELT: Österreich hat anders als Deutschland die Wehrpflicht nicht abgeschafft.
Tanner: Die Österreicher und Österreicherinnen haben sich im Jahr 2013 in einer Volksabstimmung glücklicherweise dagegen ausgesprochen.
WELT: Warum sagen Sie „glücklicherweise“?
Tanner: Die Wehrpflicht hat unserem Land gutgetan. Je mehr Länder sie haben, umso besser für die Verteidigung Europas. Die Wehrpflicht ist aus verschiedenen Gründen sehr wichtig. Erstens: Wir wissen, dass wir jedes Jahr rund 16.000 neue Rekruten haben. Damit können wir verlässlich planen und unsere Verteidigungsbereitschaft verbessern. Zweitens: Wir können die Notwendigkeit einer umfassenden Landesverteidigung und der Ausbildung eines Wehrwillens im Grundwehrdienst mit den jungen Menschen diskutieren und damit auch in die Gesellschaft hineintragen. Das macht unsere Gesellschaft sensibler für Bedrohungen und resilienter. Drittens: Eine Wehrpflicht fördert den Zusammenhalt der Gesellschaft, wenn sich beim Wehrdienst Menschen aus allen Bildungs- und Sozialschichten begegnen und besser verstehen lernen.
WELT: Würde es Europa helfen, wenn Deutschland die Wehrpflicht wieder einführen würde?
Tanner: Ich würde mir niemals anmaßen, Deutschland Ratschläge zu erteilen. Ich weiß nur: Es ist sehr schwer, eine Wehrpflicht wieder einzuführen.
WELT: Wie viele Österreicher und Österreicherinnen wären bereit, ihr Land mit der Waffe zu verteidigen?
Tanner: Laut Umfragen leider nur 25 Prozent. Diese Zahl ist ausbaufähig. Daran arbeiten wir.
Christoph B. Schiltz ist Korrespondent in Brüssel. Er berichtet unter anderem über Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, die europäische Migrationspolitik, die Nato und Österreich.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke