Seit Mitternacht ist das Ultimatum abgelaufen, das Merz, Macron, Starmer und Tusk dem Kreml-Chef Wladimir Putin gestellt hatten. Waffenruhe jetzt oder härtere Sanktionen - das war die Wahl, die Russland hatte. Nun müssen die Europäer ihre Drohung allerdings auch wahr machen, sonst werden sie unglaubwürdig. Doch einfach wird das nicht, erklärt Janis Kluge, Experte für russische Wirtschaft.
ntv.de: Für den Fall, ich wäre Friedrich Merz und fragte Sie jetzt: "Herr Kluge, welche Art von Sanktionen gegen Russland würden aus Ihrer Sicht denn jetzt am besten funktionieren? Also wir bräuchten dringend etwas, das schnell umsetzbar ist und hochwirksam." Was würden Sie mir empfehlen?
Janis Kluge: Erstmal würde ich sagen, es wäre besser gewesen, mich vorher anzurufen. Aber im Ernst: Jetzt wären in der Tat Maßnahmen gut, die relativ zügig eingeführt werden können und gleichzeitig eine starke Wirkung auf Russland entfalten. Die zu finden, ist aber nicht einfach. Darum habe ich mich etwas gewundert über die Ankündigungen der letzten Tage. Merz und Macron haben den Eindruck erweckt, als hätten sie relativ starke Hebel in der Hinterhand, um Putin in eine Waffenruhe zu zwingen. Diese Optionen sehe ich nicht, zumindest nicht in der Hand der Europäer.
Die EU arbeitet derzeit am Sanktionspaket Nummer 17. Das heißt: 16 Pakete sind schon beschlossen und umgesetzt. Ist da überhaupt noch irgendwas übrig?
Die EU hat das Problem, dass es tatsächlich nicht mehr viel Handel mit Russland gibt. Das liegt daran, dass die Sanktionen wirken. Mit Blick auf die Reste, die noch bestehen, gibt es meistens gute Gründe, die nicht zu sanktionieren. Es wäre ja auch seltsam nach drei Jahren Krieg, wenn man sich großartige Maßnahmen bis jetzt noch aufgehoben hätte. Was möglich ist: Sanktionen einzuführen, die man aus bestimmten Gründen bisher nicht einführen wollte.
Warum könnte man sich bislang gegen bestimmte Sanktionen entschieden haben?
Vielleicht bergen sie größere Risiken oder sie wären sehr kostspielig für die Mitgliedstaaten. Aber es gibt schon noch Möglichkeiten. Die EU könnte zum Beispiel versuchen, nochmals härter gegen die russische Schattenflotte vorzugehen. Die Schattenflotte ist ein Netzwerk von Schiffen, die russisches Öl transportieren und sich dabei nicht an den Preisdeckel halten. Der Ölpreisdeckel legt fest, dass Russland Rohöl nur noch für maximal 60 US-Dollar pro Barrel verkaufen darf. Das soll Moskaus Einnahmen senken und zugleich eine Ölverknappung auf dem Weltmarkt verhindern.
In der Schattenflotte fahren oft alte Schiffe in erbärmlichem Zustand, die das Öl auf offener See von einem Schrott-Frachter auf den nächsten umladen. So können sie die Herkunft der Ladung verschleiern und fälschen zudem Daten über ihre Fahrroute. Wo könnten die Sanktionen in diesem System denn greifen?
Die EU könnte deutlich härter gegen diese Schiffe vorgehen, als sie es bislang tut. Wenn sie die Schattenflotte sanktioniert, dürfen EU-Unternehmen oder EU-Staatsbürger keinerlei Geschäfte im Zusammenhang mit diesen Schiffen mehr machen. Ein solches Verbot würde die Schattenflotte schon einschränken, und es scheint, als würde die EU für ihr kommendes Sanktionspaket in diese Richtung denken. Letztlich aufhalten könnte die EU diese Schiffe aber nicht. Dazu bestehen zu viele Wege, das Verbot zu umgehen. In der Hand der Europäer sind diese Schiffs-Sanktionen auch schwächer, als wenn die Amerikaner sie anwenden.
Woher kommt diese Schwäche?
Die EU lehnte es bisher grundsätzlich ab, Unternehmen und Personen in Drittländern, also außerhalb der EU und Russlands, durch Sekundärsanktionen mit zu bestrafen, wenn sie die EU-Maßnahmen unterlaufen. Sie beschränkt ihre Sanktionen auf Unternehmen und Personen, die auch zur EU gehören. Das schwächt den Effekt ihrer Maßnahmen. Die Amerikaner arbeiten anders, sie beschließen viel weitreichendere Maßnahmen. Die USA drohen regelmäßig Unternehmen in Drittstaaten mit Sekundärsanktionen, wenn sie sich nicht an ihre Verbote halten. Ein gutes Beispiel sind die russischen Ölexporte.
Wie funktioniert das?
Die Amerikaner könnten gezielt den Kunden von russischem Öl mit Sekundärsanktionen drohen. Im Falle des Iran wurde das 2019 so gemacht – mit Erfolg. Durch die globale Bedeutung des US-Dollars können die USA einem Unternehmen in einem Drittland wie China oder Indien mit solchen Maßnahmen ernste Probleme bereiten. Die Wirkung wäre dann idealerweise, dass ein Hafen in China ein von den USA sanktioniertes Schiff nicht mehr anlegen lässt. Oder ein Ölkunde aus Indien kauft von dem sanktionierten Schiff kein Öl mehr. Das russische Ölgeschäft ist der Hebel, der immer schon am größten und wirkungsvollsten war. Zugleich war es der Hebel, an dem man am schlechtesten ansetzen konnte, weil erfolgreiche Sanktionen gegen russische Ölexporte auch die Ölmärkte aus dem Gleichgewicht bringen. Es ist aber möglich, den russischen Ölexport zu treffen, und angesichts der gefallenen Ölpreise gibt es aktuell mehr Spielraum.
Klingt nach einer guten Maßnahme. Würde aber als EU-Sanktion nicht ganz so gut funktionieren, weil diese sich nur gegen den russischen Ölhändler und EU-Kunden richten würde? Der chinesische Hafen oder der indische Kunde würden von Brüssel nicht bestraft?
Bisher hat die EU jedenfalls die Endabnehmer russischen Öls nicht mit Sanktionen belegt, auch wenn beim Verkauf des Öls der Preisdeckel verletzt wurde. Ich denke trotzdem, die EU wird versuchen, der Schattenflotte ihre Arbeit zu erschweren. Dazu könnten Hunderte von Öltankern im nächsten Sanktionspaket von der EU sanktioniert werden.
Welche Möglichkeiten gibt es außerdem?
Noch importieren EU-Staaten Flüssiggas aus Russland. Nun ist ein Ende dieser Gaslieferungen ohnehin erklärtes Ziel der Union, und zwar für 2027. Das könnte man versuchen vorzuziehen. Denn es gibt viele andere Anbieter auf dem Markt - die USA etwa, Katar, diese Option ist schon länger auf dem Tisch. Zwar hätte Russland auch andere Abnehmer, aber die Schiffe müssten weitere Wege fahren, und es wären möglicherweise andere Schiffe notwendig. Es könnte sein, dass Russland sich da nicht sofort umstellen kann. Das würde erst einmal zu Einnahmeausfällen führen, auch wenn Russland sich längerfristig auf LNG-Sanktionen einstellen kann.
Wie sieht es in anderen Branchen aus?
Ein großer Teil des noch verbleibenden Handels mit Russland findet in der Medizintechnik und Pharmazie statt. Russland importiert viele Medikamente und medizinische Geräte. Das wird, denke ich, auch so bleiben, aus humanitären Gründen. Man kann natürlich noch einmal genauer schauen, was an Maschinenteilen und sonstiger Technik exportiert wird. Die EU erweitert regelmäßig die Listen der sogenannten Dual-Use-Güter, die sich sowohl zivil als auch militärisch einsetzen lassen. Ein aktuelles Beispiel sind Controller von Videospielkonsolen. Die werden von der russischen Armee genutzt, um Drohnen zu steuern, und wurden deshalb im letzten Paket, Nummer 16, auch sanktioniert.
Logistik ist im Krieg enorm wichtig - Versorgung und Nachschub für die Front. Der Wehrmacht verreckten 1944 reihenweise Panzer, einfach nur weil wegen der Luftangriffe auf deutsche Hydrierwerke kein Sprit mehr nachkam. Gibt es Optionen, um auch die russischen Versorgungsketten direkt zu treffen? Mittels Sanktionen ist das kaum möglich, oder?
Die russische Rüstungsindustrie ist größtenteils nationalisiert. Es sind also Lieferketten innerhalb des Landes, wo die EU keinen Zugriff hat. Manche Komponenten muss Moskau allerdings importieren. Bestimmte Chemikalien sind ins Visier der EU geraten, weil sie für die Sprengstoffproduktion eingesetzt werden können. Jüngere Sanktionen richten sich darum gegen den Export bestimmter chemischer Stoffe aus der EU nach Russland.
Einführen müssen die Russen auch elektronische Bauteile, die sie aktuell aus China beziehen. Die EU arbeitet schon lange daran, das zu unterbinden und notfalls auch chinesische Firmen dafür zu sanktionieren, dass sie der Rüstungsindustrie des Kreml helfen.
Moment, aber das sind ja dann doch Unternehmen in einem Drittstaat. Geht das denn?
Offiziell würde die EU darauf beharren, dass es keine Sekundärsanktionen sind. Sie verhängt also diese Strafen formal nicht, weil etwa eine Sanktion umgangen wird. Sie sanktioniert die Unternehmen direkt, und zwar dafür, dass sie der russischen Militärindustrie helfen. Formaljuristisch macht das einen Unterschied, de facto sind sich beide Maßnahmen aber sehr ähnlich. Die EU hat sich diesen Graubereich erschlossen, weil man in Brüssel natürlich auch feststellt, dass der Verzicht auf Sekundärsanktionen gegen Drittländer den Effekt der eigenen Maßnahmen ziemlich einschränkt.
Das klingt nach einem geschickten Winkelzug. Könnte man den nicht viel mehr nutzen?
Ja, die EU könnte deutlich mehr chinesische Firmen direkt sanktionieren. Allerdings hängt der Erfolg auch immer davon ab, ob die Amerikaner mitziehen. Gehen alle westlichen Staaten gemeinsam gegen bestimmte chinesische Unternehmen vor, dann hat das Aussicht auf Erfolg. Allerdings bleibt es auch dann eine Art Katz-und-Maus-Spiel. Chinesische Bauteile finden ihren Weg nach Russland auch über andere Staaten, zum Beispiel Zentralasien. Geht es um allgemeine Teile, wie etwa Computerchips, dann ist es fast unmöglich, den Handel nach Russland zu stoppen. Der sucht sich immer wieder neue Wege, weil die Sanktionsumgehung so ein lukratives Geschäft ist.
Wir haben viel darüber gesprochen, wie schwierig es ist, mittels Sanktionen weiteren Druck auf Putin auszuüben. Wenn Sie aber zurückblicken: Kann man sagen, wo Russland militärisch stünde, wenn der Westen gar keine Sanktionen verhängt hätte?
"Was wäre, wenn"-Szenarien zu entwerfen und eine klare Antwort zu geben, ist immer schwierig. Fest steht aber, dass die Sanktionen der russischen Wirtschaft massiv geschadet haben. Sie hat sich in den vergangenen zwei Jahren zwar stark entwickelt, aber das lag an den hohen Militärausgaben und hat zu einer Überhitzung geführt. Die Folge ist unter anderem eine hohe Inflation. Jedes Jahr fallen durch die Sanktionen dutzende Milliarden an Einnahmen weg. Solange der Ölpreis hoch genug ist, kann Russland das aushalten. In Zeiten mit schwachem Ölpreis und auf langer Strecke wird das schwieriger. Ressourcen werden allgemein weniger, der Staatshaushalt kommt aktuell an seine Grenzen, und damit wird es schwieriger, Ressourcen für den Krieg zu mobilisieren. Darum sind Sanktionen auf jeden Fall schmerzhaft, aber sie wirken nicht ad hoc, sondern eher chronisch. Um Putin in eine Waffenruhe zu zwingen, sind sie aus meiner Sicht nicht geeignet.
Mit Janis Kluge sprach Frauke Niemeyer
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