Edgar Feuchtwanger wächst in den 1930er Jahren in München auf. Er erlebt hautnah den Aufstieg des NS-Regimes und die Verfolgung seiner Familie. Die jüdische Familie Feuchtwanger hat damals einen berühmten Nachbarn.

1933 leben knapp 500.000 Juden in Deutschland. Einer von ihnen ist Edgar Feuchtwanger. Gemeinsam mit seiner Familie wohnt der Neunjährige mitten in München - schräg gegenüber von Adolf Hitler. Sein Vater Ludwig ist Jurist und arbeitet als Verleger für den Verlag Duncker & Humblot. Seine Mutter Erna Rosine ist Pianistin. Die jüdische Familie wohnt in der Grillparzerstraße 38 in einer Wohnung, in der Schriftsteller wie Thomas Mann und Bertolt Brecht ein und aus gehen.

Kurz nach Edgars fünftem Geburtstag bekommen sie einen neuen Nachbarn. Hitler zieht im Oktober 1929 in eine Neunzimmerwohnung im zweiten Stock des Prinzregentenplatzes 16. Zu diesem Zeitpunkt ist Hitler bereits bekannt: Er hatte die NSDAP gegründet und war mit einem Putschversuch gescheitert. In den Monaten, die er dafür im Gefängnis saß, verfasste Hitler sein Machwerk "Mein Kampf".

"Direkt vor seinen Augen sind wir sicherer"

Der damals Fünfjährige weiß nicht, dass Hitler der Parteivorsitzende der NSDAP ist. Er weiß nur, "dass dies ein Mann war, der uns Juden gegenüber nicht sehr - wie soll ich sagen? - wohlgesonnen war", zitiert der britische "Guardian" den heute 100-Jährigen für einen Artikel zum 80. Jahrestag des Kriegsendes. Seine Eltern sehen in dem neuen Nachbar zunächst keine ernste Bedrohung. "Die Leute glaubten, Hitler sei ein vorübergehendes Phänomen", sagte Feuchtwanger. "Nun, niemand wusste wirklich, dass es so bedrohlich werden würde, bis es tatsächlich so weit war." Er sei sehr behütet aufgewachsen. Die darauffolgenden Jahre bleiben Hitler und der Nationalsozialismus für die Feuchtwangers aus der Grillparzerstraße eine abstrakte Bedrohung. Sein Vater soll einmal gesagt haben: "Hier, direkt vor seinen Augen, sind wir sicherer. Sein Genie ist so groß, dass er vergisst, aus dem Fenster zu schauen."

Wenn er aus dem Fenster schaute, habe er in der Wohnung gegenüber manchmal Hitlers Silhouette erkennen können, beschreibt Feuchtwanger es dem "Guardian". Zudem habe er oft beobachtet, wie Autos vor dem Prinzregentenplatz vorfuhren und Hitler einstieg, um sich etwa zu seinem Berghof am Obersalzberg chauffieren zu lassen.

Auf seinem Schulweg läuft der Junge am Haus des von Hitler selbst ernannten "Leibfotografen" Heinrich Hoffmann vorbei. In dessen Garten sieht er einmal Hitler in einem Liegestuhl liegen. Ihm sei das damals "ziemlich normal und harmlos" vorgekommen, so Feuchtwanger heute.

Im Januar 1933 wird Hitler Reichskanzler. Die Neunzimmerwohnung in München ist mittlerweile nur noch eines der vielen Domizile des "Führers". Wenn Hitler nach München kommt, umringen jubelnde Menschenmengen den Prinzregentenplatz. Im selben Jahr begegnet Edgar Feuchtwanger Hitler persönlich auf der Straße. Mit seinem Kindermädchen macht er gerade einen Spaziergang, da "kam Hitler gerade aus seinem Haus. Da stand ein Auto, in das er offenbar einsteigen wollte, und er sah, dass wir angehalten hatten, um ihn vorbeizulassen, und bedankte sich bei uns", so Feuchtwanger. Hitler habe in diesem Moment direkt vor ihm gestanden. "Er war eigentlich ein ganz normaler Mensch. Er hatte nichts Besonderes an sich." Auf die Frage, was Hitler getan hätte, wenn er gewusst hätte, dass der kleine Junge vor ihm Jude war, sagte er dem "Guardian": "Ich bin sicher, wir wären in Dachau umgebracht worden."

9. November 1938 - ein Wendepunkt

Fast zehn Jahre lebt die jüdische Familie Feuchtwanger in unmittelbarer Nachbarschaft zu Hitler. In diesen Jahren verändert sich alles: 1935 verliert Vater Ludwig seine Stelle bei Duncker & Humblot, gleichzeitig müssen Edgars Kindermädchen und der Familienkoch den Haushalt verlassen - so schreiben es die Nürnberger Rassegesetze der Nazis vor. Zudem werden Juden von öffentlichen Plätzen und aus den meisten Geschäften verbannt. Wegen seiner jüdischen Herkunft wenden sich auch Schulfreunde von ihm ab. Je größer Hitlers Welt wird, desto kleiner wird der Kosmos der Familie Feuchtwanger.

Die Nacht vom 9. auf den 10. November ist der Wendepunkt. Während der Pogrome in der sogenannten Kristallnacht zerstören Mitglieder der SA und der Hitlerjugend gezielt jüdische Häuser und Geschäfte sowie Synagogen. Die Wütenden kommen auch in die Wohnung der Feuchtwangers: "Sie kamen am Abend und brachten ihn (den Vater) in das Konzentrationslager Dachau, eine halbe Stunde von München entfernt", sagt Feuchtwanger. "Jeder wusste, dass Dachau existierte, dass es dort tödlich enden konnte." Mehrere Wochen ist der Vater im Konzentrationslager, nach seiner Rückkehr ist klar: Die Feuchtwangers wollen raus aus Deutschland.

Ein Onkel mit Verbindungen

Für die Ausreise der Familie brauchen sie Hilfe vom berühmten Onkel, dem Schriftsteller Lion Feuchtwanger. Der ältere Bruder von Vater Ludwig hatte Deutschland bereits Anfang der 1930er Jahre verlassen: Während er sich 1933 auf einer Lesereise in den USA aufhielt, bürgerten die Nazis ihn aus. Die Feuchtwangers müssen 1000 Pfund für ein Familienvisum für England zahlen - damals eine horrende Summe, die sie nur mithilfe des Onkels und anderer Familienmitglieder aufbringen.

Im Frühjahr 1939 reisen Vater und Sohn mit dem Zug quer durch das Deutsche Reich von München bis an die Grenze zu Dänemark. Während Vater Ludwig zurück nach München fährt, steigt Edgar auf ein Schiff, das den damals 14-Jährigen nach England bringt, wo eine Gastfamilie auf ihn wartet. "Der Tag, an dem ich die Grenze überquerte, war der 19. Februar 1939, und ich hatte das Gefühl, ein böses Reich verlassen zu haben", sagt Feuchtwanger dem "Guardian". 2024 veröffentlicht er gemeinsam mit seiner Tochter unter dem Titel "Kinderbriefe aus dem Exil, Edgar Feuchtwanger in England 1939" die Briefe, die er aus England in die Heimat schrieb. Wenige Monate später kommen auch seine Eltern nach England.

Die Familie lässt sich im südenglischen Winchester nieder. Nach einem Abschluss am Winchester College leistet der 19-jährige Edgar Kriegsdienst. Als Hitler am 30. April 1945 Selbstmord begeht, studiert Edgar bereits seit einem Jahr in Cambridge.

100 Jahre gelebtes Leben

Während Vater Ludwig sich in England nicht zu Hause fühlt, beginnt Edgar dort ein neues Leben. "Er war wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er konnte hier nichts tun. Er sprach die Sprache nicht. Nach dem Krieg wollte er zurück nach Deutschland. Meine Mutter wollte das nicht wirklich, sie hatte genug von Deutschland." 1947 stirbt sein Vater. Im selben Jahr promoviert Edgar in Cambridge, danach arbeitet er als Geschichtsprofessor an der Universität Southampton. Er heiratet 1962, bekommt Kinder und Enkelkinder.

Nachdem seine Frau Primrose 2012 verstirbt, beschließt er im Alter von 88 Jahren, gemeinsam mit dem französischen Journalisten Bertil Scali seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. "Es war gut, dass ich meine Memoiren geschrieben habe, als ich es getan habe. Heute könnte ich das nicht mehr", sagt er heute. Die deutsche Ausgabe des Buches erschien 2014 unter dem Titel: "Als Hitler unser Nachbar war. Erinnerungen an meine Kindheit im Nationalsozialismus".

Für seine Verdienste um die deutsch-britische Verständigung und Geschichte wurde Edgar Feuchtwanger 2021 der britische Ritterorden verliehen. Am 28. September 2024 feiert Edgar Feuchtwanger seinen 100. Geburtstag mit seinen drei Kindern und den Enkelkindern. "Heute bin ich vielleicht der einzige lebende Zeitzeuge, der Hitler direkt gesehen und erlebt hat und in irgendeiner Form mit ihm in Kontakt stand", so Feuchtwanger.

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