Beim Parteitag der Linken in Chemnitz ist die Harmonie groß, die Mehrheiten deutlich, der Jubel laut - einerseits. Andererseits gibt es deutliche Differenzen bei zentralen Themen. Doch die Differenzen bleiben folgenlos.
Da zeigt sich der Tagungsleiter am späten Nachmittag selbst überrascht: Eine Dreiviertelstunde früher als geplant ist der Linken-Parteitag in Chemnitz mit der Debatte über den Leitantrag fertig. Darin hatte der Parteivorstand ausbuchstabiert, wie die Linke nach der Bundestagswahl dauerhaft erfolgreich sein kann.
Im Grundsatz sind die Delegierten mit ihrer Führung sehr einverstanden, wie der Begrüßungsapplaus in der Mehrzweckhalle am frühen Nachmittag gezeigt hatte. Vor allem Fraktionschefin Heidi Reichinnek wird von den Delegierten gefeiert. "Es ist so ein verdammt gutes Gefühl, endlich mal wieder gewonnen zu haben", ruft sie ihrer Partei zu. Besser als die anderen drei aus dem Führungsquartett der Linken bedient Reichinnek die revolutionäre Pose, die bei den Delegierten gut ankommt: "Jetzt haben sie Angst, diese ganzen Macker, diese ganzen Reichen, die Springer-Presse", ruft sie. Der Parteitag jubelt.
Die gute Laune ist nachvollziehbar: Statt sich mit drei Direktmandaten knapp in den Bundestag zu zittern, hat die Partei bei der Wahl im Februar sechs Direktmandate und fast 9 Prozent geholt. Es war ein spektakuläres Comeback.
"Revolutionäre Freundlichkeit"
Im Ton klingt Linken-Chefin Ines Schwerdtner weniger kämpferisch als Reichinnek, in der Sache keineswegs. Auch sie spricht davon, "eine Wirtschaftsordnung zu überwinden, die die Menschen knechtet". Sie appelliert an die Partei, beim inhaltlichen Streit nicht zu überziehen. Vielmehr müsse die Partei solidarisch miteinander sein, es gebe schon genug Angriffe von außen. Schwerdtner fordert "revolutionäre Freundlichkeit" von den Delegierten.
Dabei dürfte sie in erster Linie an den vergangenen Dienstag denken, auch an die Kritik in der Partei an den Linken-Landesverbänden Mecklenburg-Vorpommern und Bremen. Dort regieren die Linken mit und hatten nicht verhindert, dass ihre Länder im Bundesrat für die Grundgesetzänderungen zur Schuldenbremse und zum Sondervermögen gestimmt haben. Am Dienstag wiederum hatte die Linke im Bundestag mit ermöglicht, dass CDU-Chef Friedrich Merz in einem zweiten Wahlgang bei der Kanzlerwahl antreten konnte.
Schwerdtner macht kein Geheimnis daraus, dass es keine inhaltliche Annäherung zwischen Linken und CDU gibt: "Sie verachten unsere Leute, und deshalb verachten wir ihre Politik", sagt sie über Merz und CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann. Die Union sei im Bundestag auf die Linke zugekommen, "weil wir zu stark geworden waren, weil sie mussten". Im Interview mit ntv am Rande des Parteitags sagt Schwerdtner, die Linke habe nicht gewollt, "dass von vielen Tagen Unsicherheit die AfD profitiert". Außerdem sollte die CDU merken: "An der Linken kommt sie nicht mehr vorbei."
Der Kapitalismus soll nicht regierbar bleiben
Offenen Streit über den Leitantrag gibt es nicht, vereinzelt aber scharfe Kritik. Ein Mitglied des Parteivorstands fragt, warum die Linke im Bundestag "diesem Blackrock-Merz" habe helfen müssen, zum Kanzler gewählt zu werden. An die Adresse der Landesverbände von Bremen und Mecklenburg-Vorpommern sagt sie, Aufgabe der Linken sei nicht, "dass wir die Verantwortung dafür tragen, dass der Kapitalismus durch die bürgerlichen Parteien regierbar bleibt".
Eine Delegierte aus Frankfurt am Main sagt, es wäre doch schön gewesen, "wenn Deutschland drei Tage ohne König gelebt hätte". Das wäre "ein kleines Zittern in dem großen Erdbeben gewesen, das sich Kapitalismus nennt". Die Zustimmung der Landesregierungen von Mecklenburg-Vorpommern und Bremen zu den "Kriegskrediten" - sie meint die Reform der Schuldenbremse - komme "der Ermöglichung eines Kriegseintritts gleich".
Kriegskredite, das Wort erinnert an 1914, und das soll es auch. Damals stimmte Karl Liebknecht, bis heute eine Partei-Ikone, im Reichstag gegen die Kriegskredite für den Ersten Weltkrieg. Für viele hier im Saal ist 1914 noch immer ein zentraler Bezugspunkt. Die beiden norddeutschen Landesverbände nimmt niemand in Schutz.
Ist Regieren im Kapitalismus erlaubt?
Keinen Widerspruch gibt es gegen das grundlegende Ziel der Parteiführung. Die Linke soll "eine organisierende Klassenpartei" werden. Soll heißen: "Wir wollen ein umfassendes Bildungsprogramm auflegen, um die Kampagnenfähigkeit der Partei auszubauen", wie Schwerdtner im Interview mit ntv.de erläutert hatte.
Allerdings zeigt eine ganze Reihe von Änderungsanträgen, dass es im Detail doch Konflikte gibt. Es sind die alten Streitpunkte innerhalb der Linken: die Frage, ob Linke regieren dürfen oder auf die Opposition festgelegt sein solle, auch das Verhältnis zu Russland. Die Gruppierung der Antikapitalistischen Linken beantragt, dass die Linke "Opposition" ist "und nur in wenigen Ausnahmefällen mehr".
All diese Änderungsanträge werden abgelehnt - mit einer Ausnahme. Der Satz: "In vier Jahren wollen wir eine Partei mit 150.000 Mitgliedern sein" wird aus dem Leitantrag gestrichen. Den einen riecht die Zahl zu sehr nach der Zielgröße eines Unternehmens, das wachsen will. Den anderen ist die Zahl zu niedrig.
Und dann geht es um Krieg und Frieden
Am Abend wird die eingesparte Dreiviertelstunde genutzt, um über einen Antrag über Krieg und Frieden zu diskutieren, der erst am Samstag behandelt werden sollte. Vier verschiedene Anträge hat der Parteivorstand zu einem Kompromiss zusammengebunden. Es ist ein übliches Vorgehen bei Parteitagen, auch bei anderen Parteien. Zu Kontroversen kommt es in Chemnitz dennoch.
Der Antrag fordert unter anderem: "Ohne Wenn und Aber: Sage Nein zu Aufrüstung und Kriegstüchtigkeit!" Ein Delegierter ärgert sich darüber. Die ganze Welt befinde sich in einer Spirale der Aufrüstung", und die Linke wolle einseitig abrüsten, "damit wir auch ja nicht in der Lage sind, irgendwie irgendwem zu helfen". Für eine Partei, die den Frieden anstrebe, sei das ein Desaster. "In einer Zeit, wo 'Frieden schaffen ohne Waffen' nicht funktioniert, weil einzelne große Akteure nicht mitspielen wollen, brauchen wir leider ein Potenzial, das dafür sorgt, dass wir nicht angegriffen werden und uns nicht verteidigen müssen." Dafür gibt es Beifall. Lauteren Applaus gibt es allerdings für den Ruf nach "Butter statt Kanonen".
Mehrheit, aber kein Konsens
Eine andere Delegierte sagt, die Linke sei "eine Friedenspartei, weil sie eine sozialistische Partei ist". Auch sie beruft sich auf Karl Liebknecht. Die Weltlage habe sich seither verändert, aber nicht verändert habe sich, "dass wir in ihren Kriegen sterben". Dann erklärt sie sich solidarisch "mit den Ukrainerinnen und Ukrainern" und "mit den Russinnen und Russen", die nicht im Krieg sterben wollen. Auch dafür gibt es starken Beifall.
Für den Parteivorstand ruft der Linken-Politiker Wulf Gallert aus Sachsen-Anhalt dazu auf, dem Antrag bei aller Kritik von unterschiedlichen Seiten eine breite Mehrheit zu geben. Er solle "eine ganz klare Alternative zur militaristischen Debatte in der Bundesrepublik" sein. Die Debatte zeigt: Genau das ist er nicht. Die breite Mehrheit für den Antrag gibt es trotzdem. Diese Mischung aus Kontroverse und Kompromiss ist für den Beobachter durchaus verwirrend.
Aber offenkundig ist dies vor allem ein Parteitag der Selbstvergewisserung. Slogans wie "Hoch die internationale Solidarität", "Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus" oder "Klassenkampf ist Antirassismus" werden zuverlässig mit Applaus bedacht. Am Samstag wird weiterdiskutiert.
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