Da Russland seine Frühjahrsoffensive startet, müssen sich die ukrainischen Truppen umgruppieren. Derweil erhöht US-Präsident Trump bei den Friedensgesprächen den Druck auf Moskau. Russland habe mit seinem Angriff auf Kiew eine neue Eskalationsstufe erreicht, sagt Oberst Markus Reisner.
ntv.de: Nach einem Treffen mit seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj in Rom erhöht US-Präsident Donald Trump den Druck auf Russland. Hat der russische Präsident Wladimir Putin den Bogen bei Trump überspannt?
Markus Reisner: Putin hat in den vergangenen drei Monaten versucht, Trump hinzuhalten und dadurch Zeit zu gewinnen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass er das absichtlich macht. Genährt wird der Verdacht durch verschiedene Kommentierungen, etwa von Putins Sprecher Dmitri Peskow oder Außenminister Sergei Lawrow. Währenddessen gibt es zwar Treffen zwischen den USA, Russland und Vertretern der Ukraine. Aber es ist nicht erkennbar, dass sich etwas bewegt. Nach dem Treffen mit Selenskyj am Rande des Begräbnisses von Papst Franziskus schlug der US-Präsident das erste Mal andere Töne an. Trump vermutet, dass Putin ihn über den Tisch ziehen will. Ich denke, da liegt Trump richtig.
Russland hat erneut eine Waffenruhe angekündigt, dieses Mal vom 8. bis 11. Mai, anlässlich des Tags des Sieges gegen die Sowjetunion über Nazi-Deutschland am 9. Mai.
Und damit hat er neuerlich fast zwei Wochen gewonnen. In dieser Zeit gehen die Kämpfe weiter, die russischen Truppen müssen ja auch ihre für den 9. Mai gesetzten Ziele erreichen. Was hindert Putin daran sofort einen Waffenstillstand auszurufen, oder ist es gar das Ziel die Feierlichkeiten um den 9. Mai nicht durch ukrainische Drohnenangriffe stören zu lassen? Worte alleine reichen nicht, es braucht konkrete Taten. Trump selbst fordert ja laufend sofortige Maßnahmen.
Wird Trump nun seine Strategie ändern und Zugeständnisse von Russland statt von der Ukraine verlangen?
Das hängt davon ab, welche Druckmittel er hat. Ich vergleiche die Verhandlungen mit einem Kartenspiel. Nehmen wir Poker: Wir hatten vier Teilnehmer am Tisch - Ukrainer, Europäer, Amerikaner und Russen. Dann hat Trump die Ukrainer und die Europäer nicht mehr am Tisch sitzen lassen. Jetzt spielen nur noch die Amerikaner mit den Russen. Eines ist klar: Russland sieht einen Vorteil für sich, weil Trump angekündigt hat, er wolle diesen Krieg schnell beenden. Dadurch kann Russland den Einsatz erhöhen. Entweder Trump macht seine Drohung wahr, den Tisch zu verlassen, da es keine Aussicht auf Frieden in der Ukraine gibt. Oder aber Trump hat jetzt ein gutes Kartenblatt.
Was wäre denn ein gutes Blatt?
Erstens könnten die USA zum Beispiel die Waffenlieferungen an die Ukraine wieder enorm steigern. Zweitens könnte es zu verschärften US-Wirtschaftssanktionen gegen Russland kommen. Drittens könnte die US-Aufklärungssensoren noch intensiver Ziele für die Ukrainer ausfindig machen. Ziele deren Zerstörung für Russland schmerzhaft sind.
Die USA haben die US-Satellitenaufklärung für die Ukraine zwischenzeitlich gestoppt, um sie unter Druck zu setzen. Aber Informationen werden doch jetzt wieder an Kiew weitergeleitet, oder?
Ja. Laut einem Medienbericht wird die Aufklärung der USA bislang an einem Militärstandort in Wiesbaden mit den Ukrainern geteilt. Auf Basis dieser Daten sind die Ukrainer in der Lage, gezielte Angriffe durchzuführen, und zwar auf Einrichtungen des russischen Militärs, zum Beispiel Gefechtsstände, wichtige Flugplätze sowie Logistik- und Nachschubnotenpunkte. Dazu gehören auch vor allem Angriffe auf Munitionsdepots, die tief im Landesinneren Russlands liegen. Aber die Qualität der Informationen, die durch die USA an die Ukraine weitergegeben werden, lässt sich noch einmal steigern.
Wie?
Man kann gezielt nachsehen, ob es russische Führungspersonen gibt, die zu gewissen Zeiten an gewissen Orten sind und diese dann angreifen. Falls etwa der russische Generalstabschef Waleri Gerassimow in der Ukraine auf einem Truppenbesuch ist, könnte er dann attackiert werden. Das haben die USA bislang ganz klar vermieden. Eine der roten Linien die man bis jetzt nicht überschritten hat. Aber man sieht, es gibt Möglichkeiten der Steigerung. Dann stellt sich aber die Frage, wie Russland damit umgehen würde. Bislang hat Russland bei solchen Angriffen eine rote Linie gezogen - und die USA waren nur einmal kurzzeitig bereit, diese zu überschreiten. Gegen Ende der Amtszeit von Joe Biden haben die USA es den Ukrainern erlaubt, mit weitreichenden Waffen auf dem Territorium Russlands drei Ziele im Landesinneren anzugreifen. Russland hat entsprechend reagiert. Wir erinnern uns an den Einsatz einer Mittelstreckenrakete. Diese Angriffe sind deshalb eingestellt worden.
Nachdem die USA einen Friedensplan vorgelegt haben, machte die Ukraine einen Gegenvorschlag. Beide Pläne unterscheiden sich deutlich voneinander. Wo sehen Sie den größten Unterschied?
Sowohl die Ukraine als auch Russland berufen sich in Bezug auf das von Moskau besetzte ukrainische Gebiet auf ihre Verfassungen. Die Ukraine sagt: Wir können kein Territorium hergeben, weil unsere Verfassung das nicht vorsieht. Das gilt für die Krim genauso wie für die vier Oblaste Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja. Auf der anderen Seite haben wir Russland, das diese Gebiete, obwohl sie zum Teil noch gar nicht zur Gänze besetzt sind, als Teil seines Territoriums anerkannt hat. Damit ist es gemäß der Verfassung dazu verpflichtet, sie zu beschützen. Nun versucht man, semantisch Lösungen zu finden. Das könnte zum Beispiel eine zwischenzeitliche, faktisch-politische Gebietsabtretung ukrainischer Gebiete an Russland sein - ohne diese formaljuristisch und dauerhaft als russisches Gebiet anzuerkennen.
Diese zwischenzeitliche Abtretung von Gebieten an Russland hat auch Selenskyj schon erwogen. Allerdings braucht die Ukraine dafür glaubhafte Sicherheitsgarantien durch die USA. Jetzt behauptet Trump aber, Kiew habe der formaljuristischen Abtretung der Krim zugestimmt. Glauben Sie das?
Diese Äußerung haben wir in dieser Form noch nicht von Selenskyj gehört. Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, sagte dieses Wochende, höchstwahrscheinlich werde die Ukraine im Rahmen des Abkommens mit Russland Gebiete abtreten müssen. Damit meinte er aber nicht den formaljuristischen, völkerrechtlichen Verzicht auf diese Gebiete. Selenskyj hat immer wieder betont, es müsse einen gerechten Frieden geben. Er hat auch gesagt, dies könne aus seiner Sicht nur der Fall sein, wenn Russland sich komplett aus diesen Gebieten zurückzieht. Das ist nach wie vor die Maximalforderung der Ukraine, die Selenskyj damit vorbringt.
Bei einem russischen Angriff auf Kiew am Donnerstag wurden zwölf Menschen getötet und mehr als 70 weitere verletzt. Macht Moskau damit sein Desinteresse an einem Waffenstillstand oder einem Kriegsende deutlich?
Ja. Die Frühjahrsoffensive der Russen hat inzwischen begonnen, das lässt sich an Bildern von der Front erkennen. Der Luftangriff war wieder eine maximale Demonstration der strategischen Luftkampagne, die Russland seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine führt. Das war der stärkste Luftangriff seit Juli vergangenen Jahres. Zudem ist am Wochenende nochmal klar geworden: Russland führt den Krieg nicht allein. Nordkorea und Russland haben eingeräumt, dass nordkoreanische Soldaten die russischen Truppen unterstützen. Nordkorea ist damit aus völkerrechtlicher Sicht Kriegspartei. Das sah man auch an dem Angriff auf Kiew, für den Russland u.a. eine ballistische Rakete aus Nordkorea nutzte.
Gibt es weitere Anzeichen für die Frühjahrsoffensive der Russen?
Auf der strategischen Ebene hat dieser Luftangriff die nächste Eskalationsstufe eingeleitet. Auf der operativen Ebene hat Putin im Prinzip erklärt, der Kursker Raum sei bereits vollständig befreit worden. Das stimmt nicht ganz. Es gibt noch ukrainische Kräfte auf russischer Seite. Zudem gibt es im Raum Belgorod noch ukrainische Truppen auf russischem Territorium. Aber man erkennt an Putins Aussage: Russland betrachtet diese Sache als erledigt. Deshalb wird Moskau die Kräfte, die es in Kursk eingesetzt hat, jetzt neu strukturieren. Es gibt starke Indizien für weitere russische Angriffe in Richtung Sumy.
Welche?
Die lange Front kann man auf der operativen Ebene grob unterteilen in den Nord-, Mittel- und Südabschnitt. Nach dem russischen Erfolg in Kursk sieht man im Nordabschnitt, wie russische Truppen versuchen, auf das ukrainische Territorium Richtung Sumy überzutreten. Da wurden schon erste Erfolge gemeldet. Zugleich kommt es im Mittelabschnitt, also im Donbass, zu russischen Truppenbewegungen. Heftige Kämpfe gibt es etwa in Torezk, Tschassiw Jar und sogar wieder in Pokrowsk. Die Russen versuchen parallel zu ihrer Attacke auf Pokrowsk weiterhin den nächsten Oblast Dnipropetrowsk zu erreichen.
Warum?
Sie wollen bis zum 9. Mai einen Erfolg in Dnipropetrowsk vermelden. Außerdem gibt es im Südabschnitt bei Saporischschja starke russische Angriffe. Auf der taktischen Ebene bleibt die Situation unverändert: Die Russen führen laufend Kräfte und Material zu und können mit dieser Masse, ihre eigenen Verluste ignorierend, vorrücken. Die Ukrainer halten mit ihren Angriffsdrohnenverbänden verzögernd dagegen.
Wie kann die Ukraine die russischen Angriffe erfolgreich zurückhalten?
Vor allem die USA müssen die Ukraine weiter mit Aufklärung und Waffenlieferungen unterstützen. Die Europäer haben nicht die militärischen Fähigkeiten, das alles zu ersetzen. Außerdem braucht die Ukraine zusätzliche Soldaten. Russland versucht, wie bei den Offensiven in den vergangenen Jahren, die Ukraine durch zeitgleiche Angriffe entlang der gesamten Front zu zwingen, ihre Reserven auszuspielen. Die Ukraine hat jetzt deshalb mehrere Korps gebildet.
Was ist der Vorteil an den Korps?
Es gibt militärische Verbände in unterschiedlichen Strukturen. Auf der unteren Ebene etwa den Zug mit 30 Mann, auf der oberen die Brigade mit 5000 Mann. Bislang haben die ukrainischen Regionalkommandos vor allem Brigaden eingesetzt. Ein Korps ist wesentlich größer. Es besteht in der Regel aus circa 35.000 bis 40.000 Mann. Durch den Einsatz von Korps will die Ukraine eine bessere Synchronisation erreichen, sowohl beim Zuführen von Ressourcen als auch bei der Koordinierung von Kampfunterstützungsmitteln. Zwei Korps sind bereits aufgestellt worden, zwei weitere in der Aufstellung begriffen.
Mit Markus Reisner sprach Lea Verstl
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