Als Russland die Ukraine angreift, ruft Olaf Scholz die Zeitenwende aus. Doch anschließend passiert wenig. Auch drei Jahre später fehlt es der Bundeswehr an wichtigen Waffensystemen und Soldaten. Nach wie vor leidet sie laut den Militärexperten Carlo Masala und Sönke Neitzel unter aufgeblähten Stäben und bürokratischen Blüten. "Wer entscheidet was, wann, wo? Das ist ein Chaos", kritisieren sie im "ntv Salon". Die Hauptschuldigen für die verschleppten Reformen haben sie bereits ausgemacht: ein lügender Bundeskanzler, der seinem beliebteren Verteidigungsminister in die Parade fährt. Und die SPD. "Offenbar ist sie ein Sicherheitsrisiko für Deutschland."
ntv.de: Sie sind überzeugt, dass Wladimir Putin die Nato zeitnah testen wird und rufen zur Abschreckung auf. Sehen Sie, dass das passiert?
Carlo Masala: Ich habe zum ersten Mal seit 30 Jahren leichte Hoffnung, dass Europa begriffen hat, dass es handeln muss - nicht nur Deutschland. In vielen Ländern steigt der Verteidigungshaushalt. Ursula von der Leyen hat mit der EU-Kommission ein Paket geschnürt, das den Mitgliedstaaten Militärausgaben von bis 800 Milliarden Euro ermöglicht.
Und dann kann es die Nato mit Russland aufnehmen?
Carlo Masala: Es gibt diese Greenpeace-Studie, wonach die Nato Russland in allen Bereichen bis auf Atomwaffen überlegen ist. Der Unterschied ist: Russland hat eine Armee, die Nato gleich 29.
Sönke Neitzel: Und die Türken und Griechen muss man herausrechnen. Entscheidend ist: Wie viel PS bekommen sie auf den Boden? Welche Truppen könnte die Nato morgen nach Litauen verlegen? Leider sind die Europäer in diesem Bereich spektakulär ineffizient. Bei der Grabenstärke ist die Nato kein Riese, sondern ein Zwerg.
Wo sind die Lücken?
Carlo Masala: Wir Europäer haben eine unglaubliche Lücke bei allem, was man im Englischen als "strategic enabler" bezeichnet: Lufttransportfähigkeiten, um Menschen und Material von A nach B zu fliegen, werden von den Amerikanern gestellt. Das gilt auch für Luftbetankungsfähigkeiten, um Flugzeuge möglichst lange in der Luft zu lassen.
Sönke Neitzel: Wir haben außerdem viel zu wenige Satelliten
Carlo Masala: Ja. 73 Prozent der Aufklärungsdaten kommen von den Amerikanern. Ohne sind die europäischen Truppen blind. Auch Luftverteidigung wird hauptsächlich von den Amerikanern gestellt. Wir haben derzeit acht Patriot-Batterien in Deutschland. Wenn sie die klug verteilen, können sie Berlin schützen - und Putin jede andere Millionenstadt mit ballistischen Raketen und Marschflugkörpern beschießen. Deswegen hinkt der Vergleich von Panzern und Kampfflugzeugen. Wäre der entscheidend, hätte die Ukraine wirklich in drei Tagen verloren.
Sönke Neitzel: Der ist auch nicht entscheidend für das Narwa-Szenario. Niemand muss vier Jahre lang aufrüsten, um mit 10.000 Mann über eine Brücke zu fahren und sich einzugraben.
Darauf muss Deutschland reagieren. Was machen wir, wenn dieses Szenario eintritt?
Sönke Neitzel: Die Balten und die Polen würden sich auf jeden Fall verteidigen. Deutschland hat versprochen, eine Panzerbrigade in Litauen zu stationieren, und die Bundeswehr sagt: Wenn der Einsatzbefehl kommt, gehen wir - und zwar so wie wir sind. Alles Weitere hängt vom Szenario ab. Wenn unsere Soldaten mehr leisten sollen, als mit Anstand zu sterben, müssen wir zulegen. Das deutsche Heer soll jetzt bewaffnete Drohnen bekommen. Ich frage mich, was die Herren Scholz, Pistorius und Breuer (Carsten Breuer, Generalinspekteur der Bundeswehr; Anm. d. Red.) in den vergangenen drei Jahren gemacht haben, aber egal. Im Koalitionsvertrag werden gute politische Signale gesetzt. Die Frage ist: Wie reformfähig sind wir? In meinem Buch enthülle ich: Eine Umstellung dauert bei der Bundeswehr immer 20 Jahre. Wenn die aktuelle Umstellung 2014 mit der Krim-Annexion begonnen hat, sind wir 2034 fertig.
Bis dahin bleibt die Bundeswehr in einem dysfunktionalen Zustand?
Carlo Masala: Ich weiß nicht, ob ich diese Beschreibung vollumfänglich unterschreiben kann. Aber die Bundeswehr ist ein Riesenapparat und in Friedenszeiten entstanden. Sie musste nie Krieg führen und sich verteidigen. Das war immer ein hypothetischer Fall. Das hat starke bürokratische Blüten getrieben, einige Bereiche sind dysfunktional. Wer entscheidet was, wann, wo? Das ist in der Bundeswehr ein Chaos.
Heeresinspekteur Alfons Mais sagt, dass im Ernstfall von 180.000 Bundeswehrsoldaten 100.000 auf der Tribüne sitzen und zuschauen. Ist das eine Übertreibung?
Carlo Masala: Es ist zugespitzt, aber im Kern richtig. Eine Armee besteht nicht nur aus Kämpfern. Logistiker und Sanitäter sind wichtige Elemente, um sich zu verteidigen. Aber der kämpfende Kern der Truppe ist klein, wir haben aufgeblähte Stäbe. Die Bundeswehr ist eine kopflastige Armee.
Sönke Neitzel: Schauen Sie sich das Verhältnis von Offizieren zu Mannschaften im historischen Vergleich an: Die Reichswehr, die Wehrmacht und die kaiserliche Armee hatten 4 Prozent Offiziere und damit Millionenheere geführt. Die Bundeswehr hat 25 Prozent Offiziere. Als ich Wehrpflichtiger war, gab es einen oder zwei in der Kompanie - und heute ein Vielfaches davon. Es prägt eine Armee, wenn man kaum kämpft. Niemand möchte zugeben, dass die Aufgabe der Bundeswehr die Androhung und Anwendung militärischer Gewalt ist. Wir haben sie nach 1990 zum bewaffneten THW umgedeutet. Ein guter Kommandeur werden sie bei uns nicht durch Bewährung im Kampf, sondern durch das Einhalten von Prozessen, Lehrgängen und der Arbeitszeitverordnung. Ein Stabsoffizier hat mir mal gesagt: Die Bundeswehr ist die vollendete Karikatur der deutschen Bürokratie. Das muss Boris Pistorius ändern.
Kann er das denn allein ändern?
Sönke Neitzel: Nein, das ganze Kabinett muss mitziehen. Boris Pistorius wollte eine Wehrpflicht nach dem schwedischen Modell einführen, ist aber an Bundeskanzler Scholz gescheitert, der es offensichtlich besser weiß und sagt: Die Bundeswehr hat kein Personalproblem. Das ist gelogen. Wir haben dadurch ein Jahr bei der Zeitenwende verloren. Meine Lesart ist: Pistorius ist Scholz zu erfolgreich geworden. Deswegen hat er ihn eingebremst. Das war ihm wichtiger. Scholz hat dem Land schweren Schaden zugefügt.
Klappt es im neuen Kabinett?
Sönke Neitzel: Die Bundeswehr ist komplex. Wenn die zehnte Panzerdivision kriegstüchtig gemacht werden soll, ist das auch eine juristische Frage. Es müssen auch Kasernen gebaut und Drohnen für den europäischen Luftraum zugelassen werden. Das kann ein Verteidigungsminister nicht allein entscheiden, der benötigt Unterstützung des Justizministers, des Arbeitsministers und der Bauministerin. Wenn diese Unterstützung fehlt, wird Pistorius scheitern.
Was muss denn unter Schwarz-Rot zuerst umgesetzt werden?
Carlo Masala: Die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte muss vollumfänglich hochgezogen werden. Dazu zählen Dinge wie die Drohnenbeschaffung. Die Truppe muss so ausgerüstet werden, dass sie wirklich alles hat, was sie im Ernstfall braucht. Außerdem muss sich die Einstellung ändern - nicht nur der Truppe, sondern der Gesellschaft: Ein Bündnisfall wird humane, ökonomische und politische Kosten verursachen. Wenn die Gesellschaft diesen Einsatz nicht unterstützt, wird er nicht erfolgreich sein, weil die Politik ihn vorher abbricht.
Sönke Neitzel: Und wir müssen das Personalwesen der Bundeswehr reformieren und in einer aufwachsenden Form wieder eine Wehrpflicht einführen. Dieser Wunsch nach Freiwilligkeit, den die SPD in den Koalitionsvertrag reingeschrieben hat … als ich das gesehen habe, musste ich mich erst mal ärztlich versorgen lassen. Dafür fehlt mir jedes Verständnis.
Carlo Masala: Aktuell dienen 183.000 Männer und Frauen in der Bundeswehr. Das sollten 203.000 sein, aber diese Lücke kriegen wir seit zehn Jahren nicht geschlossen. Im Sommer werden die neuen Nato-Anforderungen beschlossen. Dann wird Deutschland fünf oder sechs weitere Kampfbrigaden übernehmen. Dafür benötigen wir mindestens 30.000 zusätzliche Soldaten!
Sönke Neitzel: Das wird ohne Wehrpflicht nicht gehen. Wer das nicht begreift, sollte kein Regierungsamt übernehmen. Da sieht man, wie die SPD tickt. Offenbar ist sie ein Sicherheitsrisiko für Deutschland.
Und dann sind wir kriegstüchtig? Oder doch verteidigungsfähig? Oder meinen diese Begriffe dasselbe?
Sönke Neitzel: Die Bundeswehr muss in der Lage sein, Nato-Territorium zu verteidigen. Aber ein solches Verteidigungsszenario ist ein veritabler zwischenstaatlicher Krieg. Wir sind Weltmeister darin, Dinge schönzureden. Verteidigung klingt nett, aber wir müssen den Dingen ins Auge sehen: Beim Soldatenberuf geht es ums Kämpfen, Töten und Sterben. Dafür muss man nur in die Ukraine schauen. Die verteidigt sich auch - und führt einen Krieg um ihr Überleben.
Mit Carlo Masala und Sönke Neitzel sprachen Frauke Niemeyer und Tilman Aretz. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das vollständige Gespräch können Sie sich hier als Podcast anhören oder hier anschauen.
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