Der Spitzenverband der Krankenkassen drängt auf Reformen in der Pflege und warnt die Politik mit drastischen Worten vor drohender Zahlungsunfähigkeit bei mehreren Pflegekassen im kommenden Jahr. „Die Pflegeversicherung lebt auf Pump mit Darlehen des Bundes in Höhe von mittlerweile 4,2 Milliarden Euro“, sagte der Vorstandschef des Spitzenverbandes der Krankenkassen, Oliver Blatt am Sonntag dem RND. „Das deckt 2026 zwar annähernd das Defizit, allerdings nur rein rechnerisch.“
Die Finanzierung sei „derart auf Kante genäht“, dass laut Einschätzung seines Spitzenverbandes „einzelne Pflegekassen im kommenden Jahr Liquiditätshilfen benötigen werden“, betonte Blatt. „Dafür gibt es zwar ein geregeltes Verfahren, doch es zeigt, wie stark der Reformbedarf ist.“ Spätestens 2027 drohten dann massive Finanzierungslücken.
Die Pflegeversicherung steht vor großen Herausforderungen: Sie hat Milliardendefizite angehäuft, zudem gibt es immer mehr Pflegebedürftige und zugleich zu wenig Pflegekräfte. Im Februar 2025 hatte erstmals eine Pflegekasse Liquiditätshilfen aus dem sogenannten Ausgleichsfonds der gesetzlichen Pflegeversicherung beantragen müssen, um eine Zahlungsunfähigkeit abzuwenden.
Die Arbeitsgruppe „Zukunftspakt Pflege“ von Bund und Ländern hatte sich im Dezember auf eine grundlegende Finanzreform für die Pflegeversicherung bis Ende 2026 verständigt. Die Ergebnisse waren aber von Krankenkassen und Verbänden stark kritisiert worden. Es handle sich lediglich um eine Bestandsaufnahme ohne konkrete Finanzierungsoptionen, so der Tenor. „Ich habe den Eindruck, die Brisanz der Lage ist immer noch nicht allen Beteiligten klar“, sagte auch der Vorstandschef des Spitzenverbandes der Krankenkassen, Oliver Blatt.
Auch die Regierungskoalition zeigt sich unzufrieden mit den bisherigen Vorschlägen. Die gesundheitspolitische Sprecherin der Union Simone Borchardt bezeichnete gegenüber WELT die Ergebnisse der Kommission als „in keinerlei Hinsicht hilfreich“. Die finanzielle Lage der Pflegeversicherung sei „sehr ernst, wenn wir jetzt nicht endlich handeln. Es wird Veränderungen in der Inanspruchnahme der Leistungen geben müssen.“ Das seien aber keine Leistungskürzungen, sondern man steuere die Leistung dahin, wo sie benötigt würden.
„Wir werden die Leistungen an die Bedürfnisse der Menschen anpassen müssen und nicht mehr wie jetzt, mit der Gießkanne ausschütten. Nicht jeder, der älter ist, ist auch pflegebedürftig.“ Das Ziel müsse doch sein, dass die Menschen im Alter in ihrer Häuslichkeit bleiben dürfen und dort gut versorgt werden.
„Die soziale Pflegeversicherung steht vor erheblichen strukturellen und finanziellen Herausforderungen“, sagte auch der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Christos Pantazis zu WELT. „Die Pflegeversicherung leidet nicht an einem Zuviel an Leistungen, sondern an einer über Jahre gewachsenen Schieflage zwischen steigenden Ausgaben und einer unzureichend weiterentwickelten Finanzierungsarchitektur.“ Vor diesem Hintergrund sei die Arbeit der Bund-Länder-Gruppe ein notwendiger erster Schritt gewesen, aber eben kein Endpunkt. „Wir brauchen jetzt den Mut zu einer echten Strukturreform der Pflegeversicherung.“
Ankündigungen, die der Opposition nicht ausreichen. Evelyn Schötz, pflegepolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, sagte: „Die Warnung der Krankenkassen zeigt sehr deutlich, dass die Pflegeversicherung strukturell unterfinanziert ist und seit Jahren mit kurzfristigen Hauruck-Maßnahmen stabilisiert wird.“ Statt weiterer Flickschusterei brauche es darum endlich eine grundlegende Reform, die die Pflege solidarisch finanziere, Eigenanteile begrenze und den Zugang zu guter Pflege sichere – unter anderem durch eine solidarische Bürgerversicherung, in die alle Einkommensarten einbezogen werden.
Ohne mutige Strukturreformen „steuern wir sehenden Auges auf Beitragssprünge, mehr Sozialhilfebedarf und wachsende Verunsicherung bei Millionen Pflegebedürftigen und Angehörigen zu“, glaubt der gesundheitspolitische Sprecher der Grünen, Janosch Dahmen. „Jetzt braucht es klare Weichenstellungen: eine verlässliche Finanzierung der Pflege jenseits von Nothilfekrediten, eine spürbare Begrenzung der Eigenanteile, eine ehrliche Lastenverteilung und Maßnahmen, die die Pflege konsequent am tatsächlichen Bedarf ausrichten.“
Für „eine Entbürokratisierung im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung als auch der Pflegeversicherung“, spricht sich der Gesundheitsexperte der AfD-Fraktion Martin Sichert aus.
Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) hatte zuletzt signalisiert, dass Leistungen kritisch überprüft und die begrenzten Mittel zielgerichteter eingesetzt werden sollen. Generell soll daran festgehalten werden, dass die Pflegeversicherung – anders als die Krankenversicherung – nur einen Teil der Kosten für Pflege und Betreuung trägt. Im kommenden Februar soll ein Vorschlag zur Pflegereform folgen.
Korrespondent Philipp Woldin kümmert sich bei WELT vor allem um Themen der inneren Sicherheit und berichtet aus den Gerichtssälen der Republik.
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