Dutzende Soldaten sterben täglich an der Front in der Ukraine. Internationale Bestimmungen regeln, was mit ihnen passiert. Trotz aller Kriegsverbrechen - an diese Regeln halten sich die Ukraine und Russland meistens. Wie sehen sie aus?
Blau-gelbe ukrainische Flaggen, so weit das Auge reicht. Dazwischen ein buntes Blumenmeer, Laternen mit Kerzen darin - und Bilder von Soldaten in Uniform. Auf dem riesigen Lytschakiwskyj-Friedhof in Lwiw wird täglich durchschnittlich ein ukrainischer Soldat beerdigt, manchmal sind es auch mehrere. Wegen der vielen Gefallenen wird der Platz auf dem Friedhof knapp.
Überall in der Ukraine wachsen die Soldatenfriedhöfe. Auch in Russland werden die Gräberfelder immer größer - seit Oktober 2021 sind sie teils um das Doppelte angewachsen, zeigen Bilder des Satellitendienstes Maxar.
Wie viele Soldaten Moskau und Kiew bisher wirklich verloren haben, ist nicht klar - es gibt nur Schätzungen. Der Sicherheits- und Verteidigungsexperte Wolfgang Richter, Oberst a.D. der Bundeswehr, spricht im ntv-Podcast "Wieder was gelernt" von 200.000 Gefallenen auf der russischen und schätzungsweise 100.000 bis 120.000 Toten auf der ukrainischen Seite.
Laut dem unabhängigen russischen Nachrichtenportal Mediazona konnten inzwischen rund 132.600 getötete russische Soldaten namentlich verifiziert werden. Das Center for Strategic & International Studies (CSIS) in Washington geht von bis zu 250.000 russischen Gefallenen aus. Auf der ukrainischen Seite sind laut Schätzungen bisher über 80.000 Soldaten gestorben, dazu kommen fast 80.000 Vermisste.
Kriegsparteien bei Gefallenen vorbildlich
Sicher ist: Jeden Tag sterben im Ukraine-Krieg Dutzende Soldaten und Zivilisten. Bisher hat es laut UN knapp 13.900 Todesopfer in der ukrainischen Zivilbevölkerung gegeben. Eine riesige Menge an Leichen. Wo bleiben sie im Krieg? Und wer kümmert sich um all die Toten?
Das Ausmaß an Brutalität im russischen Angriffskrieg ist kaum vorstellbar: Häuser werden zerstört, es wird geplündert, gefoltert und Menschen werden hingerichtet. Diese Menschenrechtsverletzungen wirft der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Russland vor und hat Moskau deshalb im Juli schuldig gesprochen.
Amnesty International spricht im Zusammenhang mit ukrainischen Kriegsgefangenen von Kriegsverbrechen. Sie würden gefoltert und von der Außenwelt abgeschnitten. Das verstoße gegen die Genfer Konventionen.
Der einzige Punkt, bei dem beide Kriegsparteien sich an die Bestimmungen zu halten scheinen, ist der Umgang mit den Gefallenen, sagt Richter: "Sie halten sich in der Regel an das, was da vereinbart worden ist. Sie registrieren Tote, bestatten sie würdig oder auch provisorisch. Und beide Seiten tauschen Listen aus. Und dann werden die Gefallenen übergeben."
Provisorische Bestattungen nötig
Die jeweilige Kriegspartei ist nicht nur für ihre eigenen Toten verantwortlich, sondern auch für die der Gegner. Das legen internationale Verpflichtungen fest. Die gleichen Regeln gelten auch für den Umgang mit Zivilisten, die bei Kämpfen ums Leben kommen.
Jede Armee hat eine eigene Einheit, die sich um die Toten kümmert - einen Gräberregistrierungstrupp. Diese Einheit bestehe häufig aus Soldaten oder Reservisten, erklärt Richter. Die Trupps seien für die Dokumentation zuständig. Sie schreiben in einer Datenbank auf, was auf den Erkennungsmarken eingraviert ist - das sind die Plättchen aus Metall, die Soldaten meist besitzen: Name, Geburtsdatum und die militärische Registrierungsnummer; zusätzlich den Ort, an dem sie bestattet worden sind. Falls vorhanden, nehmen sie die eine Hälfte der Erkennungsmarken an sich, um sie später der Gegenseite zu übergeben.
Bei einer gefährlichen Gefechtslage sei eine ordnungsgemäße Überführung teils nicht möglich, sagt der Experte. "In diesem Fall gibt es provisorische Bestattungen. Dann müssen diese Gräberregistrierungstrupps auch den Ort dieses vorläufigen Grabes registrieren, um dann in einer Gefechtspause oder bei günstigerer Lage diese Leichen zu exhumieren und in ihre Heimatgemeinden zurückzuführen."
Hunderte Leichen ausgetauscht
Wenn die jeweilige Armee Gelände verliert und ihre Truppen zurückziehen muss, geht die Pflicht auf den Gegner über. Der muss sich dann um die Gefallenen kümmern. Dieser Fall sei im Ukraine-Krieg bereits häufiger aufgetreten, erklärt Richter im Podcast.
Dann kommt es zum Austausch von Gefallenen. Zuletzt hatte Russland im September der Ukraine 1000 Leichen von mutmaßlich ukrainischen Soldaten übergeben. Im Gegenzug hatte Russland die Überreste von 24 Soldaten bekommen. Damit steigt die Zahl der von Moskau an Kiew zurückgegebenen Leichen auf über 12.000; Kiew hat Moskau insgesamt mehrere Hundert Leichen übergeben.
Insgesamt plant Russland laut Richter die Überführung von 16.000 gefallenen Ukrainern. Die große Zahl liege nicht daran, "dass die Russen weniger Gefallene haben als die Ukrainer, sondern dass die Russen mehr Gelände gewonnen haben und damit in die Kontrolle von Gefallenen gekommen sind, während die Ukrainer schrittweise Gelände aufgeben mussten."
Kühllaster voller Soldaten
Solche Übergaben sind besonders bei Hitze logistisch eine große Herausforderung, so der Verteidigungsexperte. Man brauche spezielle Lkw, die die Leichen längere Zeit kühlen können. Die Teams sind unter Zeitdruck: Ist die Wartezeit länger als geplant, könne die Kühlung versagen.
Zu einer längeren Wartezeit war es im Juni gekommen: Russland hatte Bilder von Kühllastern an der Grenze zu Belarus veröffentlicht. Darin mutmaßlich Hunderte Leichen gefallener ukrainischer Soldaten - von der Ukraine nicht abgeholt. Laut dem ukrainischen Koordinierungsstab deshalb, weil Russland den Übergabe-Zeitpunkt eigenmächtig festgelegt hat.
Forensiker arbeiten auf Hochtouren
In der Ukraine angekommen, werden die Toten - wenn nötig - von Pathologen identifiziert. 18 staatliche Labore haben sich auf Kriegsopfer spezialisiert. Sie untersuchen auch Leichenteile, die ukrainische Suchtrupps auf ehemaligen Schlachtfeldern entdeckt haben.
Die Identifikation ist nicht einfach. Nicht nur wegen der riesigen Anzahl an Toten. Auch, weil in den Leichensäcken oft Teile mehrerer Menschen sind. Und wegen ihres teils schlechten Zustands. Die Forensiker bauen ihre Kapazitäten aus und erweitern die Labore. Der stellvertretende Direktor des wissenschaftlichen forensischen Dienstes in der Ukraine, Ruslan Abbasow, sagte bei ntv, die steigende Zahl an Leichen sei "eine neue Herausforderung".
Die Forensiker entnehmen DNA-Proben, auch von Gegenständen der Opfer, oder versuchen anhand der Zähne herauszufinden, um wen es sich handelt. Die DNA-Proben werden mit Datenbanken abgeglichen. Dort haben rund 100.000 ukrainische Angehörige von Soldaten ihre DNA bisher speichern lassen - mit ihrer Hilfe können die Gefallenen identifiziert werden.
Viele Tote noch auf dem Schlachtfeld
Solch eine Datenbank gibt es anscheinend auch im russischen Innenministerium. Die stellvertretende russische Verteidigungsministerin Anna Ziwiljowa hatte im November in der Staatsduma eine geheime Zahl von 48.000 Vermissten ausgeplaudert. So viele Angehörige vermisster Soldaten hätten eine Suchanfrage an die Behörden gestellt.
Die Zahl gibt einen Einblick dazu, wie viele russische Soldaten wirklich ums Leben gekommen sein könnten. Denn vermutlich werden viele Gefallene in Russland als Vermisste geführt.
Die russische Armee schaffe es nicht, alle gefallenen Soldaten vom Schlachtfeld zu bergen, schreibt das russische Online-Medium Verstka. Das bringe Probleme für die Angehörigen und die Einheiten. Ohne Leichnam gibt es keine Sterbeurkunde und damit auch keine Entschädigung. Und die Armee könne den toten Soldaten nicht aus der Personalliste streichen.
Wie viele Soldaten noch auf den Schlachtfeldern in der Ukraine liegen, ist unklar, sagt Richter, denn es gebe keine klaren Auskünfte über die Vermisstenzahlen. "Wir müssen davon ausgehen, dass einige Zehntausend als vermisst gelten, wenn man beide Seiten zusammenzählt."
Problem auch: Viele russische Soldaten tragen anscheinend keine Erkennungsmarken. Nur 10 bis 15 Prozent der russischen Gefallenen haben Marken und Papiere, sagen ukrainische Experten laut einem Medienbericht. Demnach würden russischen Soldaten vor Angriffen oft Dokumente, Rangabzeichen und Namensschilder abgenommen. Das macht es schwierig, sie im Todesfall zu identifizieren.
Einäscherungen sind die Ausnahme
Wird ein Soldat vor Ort provisorisch beerdigt, ist es meist eine Erdbestattung. Einäscherungen kommen eher selten vor. Diese würden nur aus religiösen oder hygienischen Gründen durchgeführt, erklärt Richter im Podcast. Dafür müssten Ärzte die Todesursache feststellen und die Einäscherung mit der Gegenseite abstimmen. "Und es kann schon mal Hygienebedingungen geben bei einem Massenanfall von Toten, wo man sich entscheiden muss, Verbrennungen durchzuführen." Diese Situation habe es im Ukraine-Krieg aber bisher nicht gegeben.
Die Ukraine hatte Russland allerdings kurz nach Kriegsbeginn genau das vorgeworfen: Leichen von Zivilisten zu verbrennen. Der Bürgermeister von Mariupol hatte gesagt, Russland verbrenne sie in der Stadt in mobilen Krematorien, um Spuren zu verwischen. Dafür gibt es allerdings bisher keine Belege.
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