Vergangene Woche kündigte der Antisemitismusbeauftragte der Stadt Hamburg, Stefan Hensel, an, sich zurückzuziehen. Der 45-Jährige übernahm das Ehrenamt 2021 und war erst 2024 vom rot-grünen Senat für eine zweite Amtszeit bestätigt worden. Hensel, der die Geschäfte bis zum Jahresende weiterführt, begründete seinen Rückzug auch mit dem veränderten gesellschaftlichen Klima. Hier spricht er exklusiv über seine Gründe.
WELT: Herr Hensel, Sie sprachen nach Ihrem überraschenden Rückzug von einer „anhaltenden Konfrontation mit Hass“. Was meinen Sie damit genau?
Stefan Hensel: Ich erlebe zum einen sehr viel Online-Hass auf allen Kanälen. Qua des Amtes wird man zur Zielscheibe, man ist der Zionist, man ist der Vertreter Israels, man ist derjenige, der vermeintliche Kriegsverbrechen rechtfertigt, oder schlicht ein Kindermörder. Diese Entwicklung hat seit dem 7. Oktober dramatisch zugenommen. Das berichten mir auch andere Kolleginnen und Kollegen, die in der Öffentlichkeit stehen. Das allein könnte man noch wegstecken.
Was mich noch stärker betroffen macht, sind die vielen Schicksale jüdischer Menschen, von denen ich meines Amtes wegen, aber auch in meinem privaten Umfeld höre: Kinder, die gemobbt werden in der Schule, nur weil sie Juden sind – und nun in psychiatrischer Behandlung sind. Menschen, die von ihren Nachbarn nicht mehr gegrüßt werden und die sich in die soziale Isolation zurückziehen. Eine Gemeinde, die sich in Deutschland alleingelassen fühlt. Ich habe es lange geschafft, diese Schicksale nicht zu sehr an mich heranzulassen. Doch das geht nicht mehr, auch weil es immer mehr wird.
WELT: Im Mai dieses Jahres wurden Sie selbst Opfer von Judenhass, als ein Mann Sie mit dem Auto von der Straße drängte und beleidigte. Sie waren mit ihrer Tochter unterwegs und hörten hebräische Lieder. Welche Rolle hat dieser Vorfall bei Ihrem Rückzug gespielt?
Hensel: Wenn das eigene Kind mit dabei ist, ist es natürlich eine andere Qualität. Leider muss ich im Rückblick sagen: Mit dieser Situation hat mich die Politik ziemlich allein gelassen. Der Staatsschutz ermittelt seitdem, und ich musste das Verfahren selbst stemmen, Anwälte und das gesamte juristische Prozedere bezahlen. Das Gleiche gilt für die ständigen Bedrohungen auf Social Media und anderen Kanälen, die man oft in detaillierter Kleinstarbeit selbstständig zur Anzeige bringen muss. Da ist die Position der Verantwortlichen: Das hat nichts mit dem Amt direkt zu tun, das musst du als Privatperson regeln.
Aus meiner Sicht wird grundsätzlich die Gefahr für Politikerinnen und Politiker, aber auch für Mandatsträger und Menschen in öffentlichen Ämtern massiv unterschätzt. Jetzt sind der Hass und die Gewalt vor allem auf der Straße oder im digitalen Raum zu finden. Aber das kann leicht in die Büros und Parlamente übergreifen. Mir macht das Sorgen in Bezug auf bürgerliches Engagement und unser Gemeinwohl. Die Rahmenbedingungen stimmen nicht mehr mit der Realität überein.
WELT: Die zuständige Senatorin hat Ihren angekündigten Rückzug „sehr bedauert“.
Hensel: Auf der persönlichen Ebene nehme ich den Leuten ihre Solidarität und Anteilnahme ab, aber in den Gremien ist davon wenig zu sehen. Seit dem 7. Oktober hat diese Unterstützung im Engagement gegen Antisemitismus nochmal massiv abgenommen. Ich bin immer weniger im politischen Diskurs durchgedrungen. Wir haben heute einen gesellschaftlichen Konsens, der in Nahost nicht mehr Ursache und Wirkung unterscheidet, nicht mehr verifizierbare Information von Propaganda. Diese Emotionalisierung des Konflikts ist tief in die gesellschaftliche Debatte eingezogen. Das komplette politische Spektrum in Deutschland hat eine andere politische Präferenz gewählt, so empfinde ich es. Eine Folge: Die Gedenkveranstaltungen zum 7. Oktober haben Jüdinnen und Juden selbst organisiert, ohne Mitwirkung der Stadt. Umso mehr freue ich mich, dass die israelische Flagge an diesem Tag am Rathaus hing.
WELT: Sie sind als Beauftragter Anlaufstelle für viele Menschen. Wie hat sich das Leben für Jüdinnen und Juden in Deutschland verändert?
Hensel: Jüdische Menschen leben seit dem 7. Oktober unter einem hohen Stresslevel. Psychische Erkrankungen haben zugenommen, es ist ein sozialer Rückzug erfolgt. Die Menschen fühlen sich alleingelassen, sie fühlen sich nicht verstanden, haben oft Freundschaften verloren und vermeiden Small Talk, wenn das gegenüber weiß, das man jüdisch ist. Weil immer das Gefühl vorherrscht: Gleich könnte es um Gaza gehen, ich muss mich rechtfertigen und verteidigen. Deshalb finde ich es so wichtig, dass jüdische Organisationen und jüdische Gemeinden freudvolle Feste ausrichten, die den Menschen die Möglichkeit geben, zusammenzukommen und eine positive, jüdische Identität zu leben. Aber das ist sehr schwer gerade, die Unsicherheiten und Enttäuschungen sind in der jüdischen Gemeinschaft deutlich spürbar.
WELT: Wo bricht sich der Hass aus Ihrer Sicht besonders Bahn – ist das der öffentliche Raum, die Universitäten, einige Viertel?
Hensel: Ich war kürzlich in Ungarn auf einer Delegationsreise und sage dies ohne Bewertung der Regierung Orbán, rein aus meiner Erfahrung: Ich kann mich dort als Jude frei bewegen – und das kann ich in Frankreich und in Spanien nicht. Auch in weiten Teilen Deutschlands kann ich mich als Mensch, wenn er als Jude erkennbar ist, nicht frei bewegen. Meine Erfahrung ist: Die Davidsterne sind eingepackt, die Kippa unter dem Basecap verschwunden, weil es sonst gefährlich wird.
Eine Familie, die ich kenne, wohnt in Hamburg im zwölften Stock eines Hauses, aber fährt aus Angst nur bis zum zehnten Stock. Sie erzählen mir, dass neben ihnen eine tschetschenische Familie lebt. Zusammen haben sie immer in ihrer russischen Muttersprache gesprochen, seit dem Hamas-Terror grüßt die andere Familie nicht mehr und provoziert. Ich war kürzlich an Jom Kippur in Berlin, es war der Tag des antisemitischen Mordanschlags in Manchester, und ich sah eine israelische Familie auf dem Weg in die Synagoge, das eine Kind hatte eine italienische Fahne in der Hand, die Eltern sprachen miteinander Englisch. Die Mutter sagte: Hier gibt es keine Sicherheit. So ist die Lage.
WELT: Von wem geht die Bedrohung aus?
Hensel: Das kommt auf die Region an. Wenn man mit Juden in westdeutschen Großstädten spricht, wovor sie sich sorgen, dann hört man: junge, muslimische Männer, die Taten im Affekt begehen. Es gibt eine aggressive Gewalt im öffentlichen Raum, die einschüchtern soll. Bei sogenannten propalästinensischen Demos müssen koschere Läden und Institutionen in der Umgebung schließen oder schränken den Betrieb ein. Bei einer der wenigen proisraelischen Kundgebungen muss umgekehrt kein Mensch mit arabischen Wurzeln sein Geschäft zusperren oder Angst haben.
Wenn wir über ostdeutsche Städte reden, dann sind es vor allem rechtsextreme junge Männer, die Juden Angst machen und Gewalt verüben. An den Universitäten erfahren jüdische Studierende Ablehnung bis hin zu offenen Anfeindungen und stehen unter einem bizarren Positionierungsdruck. Der Antisemitismus wuchert leider an vielen Stellen.
WELT: Was macht das mit der jüdischen Gemeinschaft?
Hensel: Meine Beobachtung ist, dass viele Juden im Transit leben, in Gedanken einen Plan B entwickeln. Die jüdische Bevölkerung in Deutschland ist zu über 90 Prozent post-sowjetisch und überdurchschnittlich von Armut betroffen und hat hier Zuflucht gesucht, vor allem Sicherheit. Es war keine Liebesbeziehung mit der neuen Heimat, aber das Sicherheitsversprechen galt. Viele meiner Gesprächspartner und Freunde haben nun das Gefühl: Dieses Versprechen ist seit dem 7. Oktober 2023, seit der Eskalation in Nahost, dabei, aufgekündigt zu werden.
Korrespondent Philipp Woldin kümmert sich bei WELT vor allem um Themen der inneren Sicherheit und berichtet aus den Gerichtssälen der Republik. Im September ist im Verlag C.H. Beck sein Buch „Neue Deutsche Gewalt. Wie unsicher unser Land wirklich ist“ erschienen, das er gemeinsam mit WELT-Investigativreporter Alexander Dinger geschrieben hat.
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