Niemand will mit Terroristen verhandeln, aber 20 Geiseln sind nun seit zwei Jahren in der Hand der Hamas. Sie können nur mit einem Deal befreit werden. So dreckig der wird - Israel braucht das Ende dieses Krieges genauso dringend wie Gaza.
Als Irit Lahav und ihre Tochter aus dem Kibbuz Nir Oz am 7. Oktober 2023 frühmorgens in ihren Schutzraum rennen, halten sie das, was draußen passiert, noch für einen normalen Luftalarm. Raketen aus dem Gazastreifen, wie ein, zwei Mal im Monat. Gleich vorbei.
Diesmal nicht.
Stattdessen kommt plötzlich eine andere Sorte Knall hinzu. Irits Tochter hört sie zuerst, Schüsse müssen das sein, Salven aus automatischen Waffen. Explodierende Granaten, Panzerbüchsen, vor dem Haus, seitlich davon, überall. Nun dringen von draußen auch Stimmen zu ihnen, Wortfetzen, Arabisch.
In den kommenden 12 Stunden wird es keinen Moment mehr ohne Gewehrsalven und Explosionen geben. Irit und ihre Tochter hingegen werden in vollkommener Stille agieren. Niemand da draußen darf hören, dass sich hier in diesem Zimmer Menschen befinden. Irit wird aus einer Bootsstange und Teilen des Staubsaugers eine Vorrichtung bauen, die das Schloss der Zimmertür stabilisiert. Das wird nicht einfach sein, weil sie nicht aufhören kann, am ganzen Leib zu zittern.
Ihre Nachbarn schreiben im Gemeinschafts-Chat: "Wo ist die Armee?" oder "Mein Mann wurde angeschossen. Wer kann helfen?" Doch alle wissen: Wer sein Versteck verlässt, ist dem Tod geweiht.
Irit ist sich sicher, dass die Tür nicht halten wird. Darum wird sie geräuschlos Bücher aus dem Regal ziehen, sie als Schutzwall vor der Tür stapeln. Sie denkt, "dann werden wir nicht tödlich getroffen, nur verletzt." "Sinnlos", flüstert ihre Tochter, "Wir werden sterben." Das erste Buch, das Irit zu fassen kriegt, ist ein Sachbuch über die Nazizeit. Sie zeigt es ihrer Tochter und flüstert, "Ich hoffe, Hitler rettet uns diesmal."
Wer Irit Lahav zuhört, wenn sie lange nach dem 7. Oktober 2023 die Geschichte ihres Überlebens erzählt, kann kaum anders als sich in Gedanken neben sie in diesen stockfinsteren, stickigen Raum zu legen. Draußen ziehen die Terroristen in ihrem brandschatzenden, Menschen schlachtenden Exzess von Haus zu Haus. Fünfmal werden sie auch zu Irit kommen. Zertrümmern Küche und Wohnzimmer, stehen irgendwann vor der Tür zum Schutzraum. Direkt davor. Hämmern dagegen, treten dagegen, verlieren die Lust. Das letzte Mal am Nachmittag um fünf.
"Verraten" habe sie sich gefühlt, in diesen 12 Stunden im Versteck, wird Irit Lahav später sagen. Verraten von ihrem Land, von ihrer Armee in Todesgefahr im Stich gelassen. Und verraten fühlte sich Irit Lahav auch später, viele Monate nach dem Massaker. Sie, die in größter Gefahr unglaublichen Mut und Kampfgeist bewiesen hatte, kommt bei dem Gedanken an die Geiseln, die noch immer in der Gefangenschaft der Hamas sind, an ihre Grenzen.
Mut und Kampfgeist nutzt Irit Lahav seit dem Massaker, um einen Geiseldeal mit der Hamas zu erreichen. Sie will einen Deal mit den Peinigern. Mit den Mördern ihrer Nachbarn. Weil das die einzige Hoffnung auf Heilen dieser Wunden ist: die Rettung der anderen.
Irit kämpft für einen Deal mit der Hamas, wie das ungeheuer viele Israelis tun, seit zwei Jahren. Nicht für Gaza, sondern für die Geiseln. Ein so großer Teil gemessen an dieser Zehn-Millionen-Bevölkerung, wie in Israel schon so oft für die Befreiung der Hamas-Geiseln auf die Straße ging, ist in Deutschland noch nie auf der Straße gewesen. Für nichts.
All diese Menschen fühlten sich nach dem Massaker des 7. Oktober verraten von ihrer Regierung. Zum einen, weil Netanjahu es zugelassen hatte, dass die Hamas in Gaza so furchtbar wirkmächtig wurde. Weil der Premier die ständigen Finanzspritzen aus Katar geduldet hatte. Es kam ihm zupass, dass die gepäppelte Hamas die Stellung der Autonomiebehörde im Westjordanland untergrub. So hatte er einen guten Grund, sich nicht um eine Friedenslösung zu bemühen: Mit wem sollte er verhandeln, wenn Machthaber in Westbank und Gaza verfeindet waren, wenn die Gegenseite also nicht mal mit einer Stimme sprach?
Netanjahu ließ nicht ab von Gaza
Schon vor dem 7. Oktober hat Netanjahu Israel im Stich gelassen. Und noch einmal, noch schmerzhafter, danach. Zwar war ein Verteidigungsschlag gegen die Dschihadisten in Gaza unvermeidlich, denn die Hamas würde keine Ruhe geben, solange noch ein Jude am Leben ist. Gegenüber seiner Bevölkerung hatte der Staat Israel die Pflicht, sich zu wehren, diese Bedrohung auszuschalten.
Doch als das geschafft war, als die obersten zwei Ebenen der militärischen Hamas-Führung vernichtet waren, als unzählige Waffenlager ausgehoben und, laut IDF-Zahlen, 20.000 Hamas-Kämpfer getötet waren, da ließ Netanjahu noch immer nicht ab von Gaza.
Eine Waffenruhe, durch die 25 Geiseln freikamen, brach der Premier nach zwei Monaten. Er versuchte nicht, die verbliebenen 20 aus den Tunneln in Gaza zu retten, sondern blies zum Luftangriff und begann eine Blockade der Hilfslieferungen.
Warum? Um seine Regierungskoalition zu retten. Nichts weiter, Ende der Erklärung. "Keinen Deal mit der Hamas", sagten die rechtsextremen Minister Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir immer wieder und behaupten, ein gnadenloser Einmarsch in den Gazastreifen könnte die Geiseln befreien. Auch wenn ranghohe israelische Militärs bis hoch zum Generalstabschef exakt das Gegenteil sagen: dass nämlich die verbliebenen 20 Geiseln durch militärische Gewalt eher gefährdet werden; ungewollt von israelischen Soldaten im Kampf getroffen oder aus Rache an Israel von der Hamas umgebracht.
Premier Benjamin Netanjahu ficht das nicht an. Er gebärdete sich, wie es ihm seine rechtsextremen Regierungspartner auferlegten, und wurde damit toxisch für Israel. Denn sein gnadenloser Gazakrieg mit Tausenden Zivilopfern, die offen geäußerten Pläne, den Streifen zu entvölkern, haben den Blick vieler auf den jüdischen Staat verändert, bei manchen in Ablehnung umschlagen lassen. Auch in Deutschland werden Jüdinnen und Juden angegriffen, und wenn die Bundesregierung sagt, "Wir stehen an der Seite Israel", schwingt ein großes "Aber…" mit. Manch andere westliche Demokratien versuchen gar nicht mehr, einen solchen Satz zu sagen.
All das war Hamas-Kalkül. Das Ziel: die Isolation Israels. Weil den Terroristen klar war, dass Netanjahus rechtes Bündnis den 7. Oktober brutal vergelten würde. So spannten sie die Falle auf und Israels Regierung trat mit Furor hinein.
Bomben, Bulldozer, Blockade – es hat gedauert, doch jetzt hat Netanjahu den Bogen auch in den Augen der USA überspannt. Seit Washington seine Rückendeckung infrage stellt, ist Israel wieder bereit zu verhandeln. Weil ein anderer Egomane – Donald Trump – auf Ruhm und gute Geschäfte schielt und sich nicht scheut, beiden Seiten Druck zu machen und offen zu drohen. Egal, wie dreckig dieser Deal mit den Terroristen wird - für Gaza und für die Geiseln muss er jetzt gelingen. Endlich.
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