Unmittelbar nach der Bundestagswahl im Februar sind bereits Rufe des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) nach einer Neuauszählung der Stimmen laut geworden. Nur rund 9500 Stimmen fehlten der Partei für den Einzug ins Parlament. Eilanträge am Bundesverfassungsgericht blieben ohne Erfolg, und zunächst verstummte die Debatte. Nun scheint wieder Bewegung in die Diskussion zu kommen.

Denn die AfD unterstützt die Forderung von BSW-Parteichefin Wagenknecht. Der stellvertretende AfD-Bundesvorsitzende Stephan Brandner sagte dem Magazin „Stern“: „Die anderen Fraktionen scheinen auf Zeit zu spielen. Falls es nur irgendeinen Zweifel darangibt, dass der Bundestag nicht korrekt zusammengesetzt ist, muss neu ausgezählt werden.“ Es gelte das Prinzip: „Im Zweifel zugunsten der Neuauszählung.“

Das Bundesverfassungsgericht hatte darauf verwiesen, dass zunächst der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags über die Thematik entscheiden müsse. Erst danach sei der Rechtsweg nach Karlsruhe offen. Eine Entscheidung hat der Ausschuss bisher allerdings nicht getroffen, ein Zeitpunkt dafür ist ebenfalls nicht bekannt.

Wagenknecht reagiert auf die öffentliche Unterstützung durch die AfD nun schnell. WELT sagte sie: „Wenn sich die größte Oppositionsfraktion für eine Neuauszählung ausspricht, sollten die kleineren Oppositionsfraktionen diese nicht blockieren. Auch Grüne und Linke sollten auf einem korrekten Wahlergebnis bestehen, statt sich an möglicherweise unrechtmäßig erlangte Mandate zu klammern.“ Die „Regierung Merz“ hätte „bei korrekter Auszählung wahrscheinlich keine demokratische Legitimation“.

Grüne und Linke winken ab

Sowohl Grüne als auch die Linkspartei betonen auf WELT-Anfrage allerdings, die Ergebnisse der Beratungen im Wahlprüfungsausschuss abwarten zu wollen. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Linda Heitmann, die Mitglied im Wahlprüfungsausschuss ist, erklärte: „Die Prüfung von Einsprüchen zur Bundestagswahl ist Aufgabe des Wahlprüfungsausschusses im Bundestag. Dieser klärt sorgfältig und unabhängig, ob bei der Wahl alles rechtens verlief. Die grüne Fraktion vertraut diesem bewährten Vorgehen.“ In dieser Woche werde dem Bundestag die erste Beschlussempfehlung des Ausschusses über die Einsprüche gegen die Bundestagswahl vorgelegt.

Die Linkspartei um den Co-Fraktionsvorsitzenden Sören Pellmann griff indirekt die AfD für ihre Positionierung an. WELT sagte Pellmann, der ebenfalls Mitglied im Wahlprüfungsausschuss ist: „Die Stellungnahmen der Bundeswahlleiterin und der Landeswahlleitungen sowie die Erwiderung des BSW werden noch ausgewertet. Es muss sorgfältig geprüft und dann entschieden werden. Dem ist nicht vorwegzugreifen – so wie andere das jetzt tun.“

Neben den Oppositionsparteien fordert Wagenknecht auch die SPD dazu auf, sich den Forderungen einer Neuauszählung anzuschließen: „Es wäre ein Armutszeugnis für die Parteien der selbst ernannten ‚demokratischen Mitte‘, wenn sie eine Neuauszählung verhindern, weil auch sie in Wahrheit davon ausgehen, dass das BSW dann mit hoher Wahrscheinlichkeit doch noch in den Bundestag einziehen würde.“

Der SPD-Abgeordnete Macit Karaahmetoğlu, der Vorsitzender des Wahlprüfungsausschusses ist, betonte, dass eine Unterstützung oder Ablehnung bestimmter Einsprüche beziehungsweise Forderungen der „laufenden Prüfung des Ausschusses und auch den jeweils zugeteilten Berichterstattern im Ausschuss vorweggreifen“ würde. „Das wäre gänzlich inakzeptabel.“ Der auf eine „Neuauszählung gerichtete Einspruch werde vom Wahlprüfungsausschuss priorisiert behandelt“. Ein Sprecher der Unions-Fraktion teilte ebenfalls mit, dass man sich nicht während des laufenden Verfahrens äußern werde.

Juristin hat erhebliche Zweifel an BSW-Forderung

Die Rechtswissenschaftlerin und Parteienforscherin Sophie Schönberger von der Freien Universität Berlin äußerte Zweifel, ob die vorrangige Wahlprüfung beim Bundestag der richtige Weg sei. „In der Tat tritt dadurch eine deutliche Verzögerung ein, in aller Regel erfüllt gerade bei kontroversen Verfahren ein Bundestagsbeschluss aber keine Befriedungsfunktion, sodass diese Angelegenheiten ohnehin später beim Bundesverfassungsgericht landen.“

Anders sei dies auf Landesebene: Dort könne bei Wahlanfechtungen direkt das Gericht angerufen werden. Um den Mechanismus auch auf Bundesebene zu ändern, brauche es eine Grundgesetzänderung. „In der Sache halte ich den Einspruch des BSW allerdings für offensichtlich unbegründet.“

Das BSW beruft sich dagegen darauf, dass „allein durch Überprüfung eines verschwindend geringen Bruchteils der Wahllokale“ zwischen vorläufigem und amtlichem Endergebnis über 4000 Stimmen für das BSW „gefunden“ worden seien. Wagenknecht sagte: „Bei einer flächendeckenden Überprüfung würden sehr wahrscheinlich weit mehr als 9500 Stimmen ermittelt, die von den Wählern für das BSW abgegeben, aber fälschlich anderen Parteien zugerechnet oder als ungültig gewertet wurden. Wir sind es unseren rund 2,5 Millionen Wählerinnen und Wählern schuldig, alles zu unternehmen, dass jede Stimme, die für das BSW abgegeben wurde, auch für das BSW gezählt wird.“

Weder der Bundeswahlleiter noch die Landeswahlleitungen haben bisher Hinweise darauf veröffentlicht, dass es bei der Stimmenauszählung systematische Fehler gegeben habe, die das Ergebnis des BSW wesentlich verändert hätten.

Sollte das BSW nachträglich genügend Stimmen erhalten, um in den Bundestag einzuziehen, würde das die politische Machtbalance erheblich verschieben. Die derzeitige Koalition aus Union und SPD verlöre ihre Mehrheit, während AfD und BSW zusammen mehr als ein Viertel der Mandate hielten: Genug, um gemeinsam parlamentarische Untersuchungsausschüsse einzusetzen.

Politikredakteur Nicolas Walter berichtet für WELT über gesellschaftspolitische Entwicklungen im In- und Ausland.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke