Die Russen skalieren ihre Luftangriffe, zugleich zeigt der ukrainische Schutzschirm immer mehr Löcher. Was hilft gegen die neu und besser programmierten russischen Raketen? Oberst Markus Reisner zeigt auf, mit welchen Waffen die Ukraine der neuen Bedrohung begegnen kann.

ntv.de: Herr Reisner, bei meinem Kiew-Besuch in der vergangenen Woche sprang fünf Mal am Tag die Sirene an. So viel Luftalarm hatte ich zuvor noch nie erlebt.

Markus Reisner: Fast jeden zweiten Tag starten die Russen inzwischen einen sehr schweren Luftangriff, nicht mehr nur alle 14 Tage wie noch vor Monaten. Und jeden Tag fliegen Drohnen in die Ukraine ein.

Wenn die Sirene heult, hat man derzeit eine Viertelstunde, um Schutz zu suchen. Dann haben die Geschosse Kiew erreicht. Binnen Minuten füllen sich Unterführungen und Metro-Stationen. Woher nehmen die Leute das Durchhaltevermögen?

Es ist bewundernswert, wie stoisch die Bevölkerung diese Belastung auch im vierten Kriegsjahr noch erträgt. Aus meiner Sicht liegt die Belastungsgrenze der Ukrainer deutlich höher als in unseren westlichen Ländern. Sie haben sich natürlich langsam daran gewöhnt, weil der Krieg ja im Osten des Landes schon seit 2014 tobt. Die Ukrainer haben seitdem viel getan, um resilienter zu werden, das Toleranzlevel ist höher verglichen mit unseren Gesellschaften: Wenn ein paar Drohnen über EU-Hauptstädten fliegen, sind gleich alle in höchster Aufregung.

Aber ist die Aufregung nicht ganz gesund? Um sich mal klar zu machen, dass Putins Krieg über die Ukraine hinausgeht? Und wir schon jetzt Angriffsziel sind?

Tatsächlich ist es gut, dass mit diesen Drohnensichtungen jetzt in Europa ernsthaft gefragt wird: Haben wir unseren Luftraum unter Kontrolle? Wer ist in dem Fall überhaupt zuständig? Wie ist der Rechtsrahmen? Ließe dieser das gezielte Stören der Drohne und im schlimmsten Fall einen Abschuss zu? Diese Fragen hat man bislang nur akademisch diskutiert. Jetzt wird das konkret hinterlegt, weil man einfach handeln können muss. Weil die Gefahr besteht, dass der Staat ansonsten die Kontrolle verliert. Das ist ja das Entscheidende.

Sie meinen, das entscheidende Ziel für den Kreml?

Ja. Noch aus der Sowjetunion gibt es dieses Muster, wie Moskau damals mit seinen Satellitenstaaten umgegangen ist, wenn ein Land drohte, abtrünnig zu werden. Zuerst der Versuch, das Land und seine Bevölkerung zu demoralisieren. Als zweites folgte die Destabilisierung des Staates durch Angriffe auf die staatlichen Organe. Darauf folgten bereits Übergriffe auf das Hoheitsgebiet, die in der Regel eine Krise oder innere Unruhen auslösten. In Phase vier wurde dann die Ordnung wiederhergestellt, indem sowjetische Truppen einmarschierten. In Ungarn oder der damaligen Tschechoslowakei ist das gleich mehrfach so passiert. Das Muster erkennen wir jetzt im Einsatz von Drohnen über europäischen Städten - auch die sollen bei uns eine Krise auslösen. Es soll wirken, als seien die Staaten nicht in der Lage, ihr Territorium zu kontrollieren. Aber wir reagieren darauf. Das ist ein gutes Zeichen, wir wachsen mit unseren Herausforderungen und Aufgaben.

Ihrer Einschätzung nach ist es aber für Kreml-Chef Wladimir Putin immer noch mehr wert, dass Chaos entsteht, als es ihm schadet, wenn die EU-Staaten die Bedrohung erkennen und sich resilienter aufstellen?

Derzeit überwiegt für Putin auf jeden Fall der Gewinn durch das entstandene Chaos, denn die Russen erreichen damit gleich mehrere Effekte. Zuerst die Blamage für die staatlichen Organe und die Nato. Dann die entstehende Panik, welche zur Frage führt: Können wir überhaupt unseren eigenen Luftraum schützen? Wo ist unsere Fliegerabwehr? Warum schicken wir so viele Systeme in die Ukraine, anstatt uns selbst damit abzusichern? Damit sind wir beim dritten Effekt: Der Kreml profitiert davon, dass zukünftig vielleicht weniger Fliegerabwehr in die Ukraine geschickt wird, weil wir uns selbst gegen eine mögliche strategische Luftkampagne schützen wollen.

Geht es dabei in erster Linie um Patriot-Fliegerabwehr?

Vor allem, würde ich sagen, betrifft es die kostbaren mobilen Radarsysteme. Diese schaffen das Luftlagebild und sind damit ein wichtiger Bestandteil der Fliegerabwehr. Der entscheidende Vorteil ist aber, wie betont, die Möglichkeit, die Nato und westliche Regierungen als nicht handlungsfähig vorzuführen. Zudem entsteht nun weiteres Chaos, wenn eigentlich unbeteiligte Drohnenpiloten verhaftet werden, weil sie mit ihren Geräten in der Nähe eines Flugplatzes waren. Unsicherheit, Panik und Angst, genau diese Effekte wollen die Angreifer erreichen. Bis zum Zusammenbruch der Ordnung, wenn schließlich Hunderttausende Menschen bei eingestelltem Flugbetrieb auf Flughäfen stranden und nicht mehr von A nach B kommen.

Fliegerabwehr wird für die Ukraine auch deshalb derzeit immer schwieriger, weil die Abschussrate nach unten geht. Es kommen also mehr russische Geschosse durch den Abwehrschirm als früher. Wie schwerwiegend ist das?

Die Expertenszene beobachtet das schon länger, auch aufgrund Videos von Angriffen, die zum Teil von Ukrainern gefilmt wurden. Die Regierung in Kiew möchte solche Aufnahmen nicht verbreitet sehen, aber sie kommen trotzdem immer wieder in die Öffentlichkeit.

Hinzu kommen Berichte von Journalisten, die in der Ukraine die Schwierigkeiten beim Abfangen von Raketen und Marschflugkörpern wahrnehmen, wie kürzlich neuerlich in der Financial Times zu lesen stand. Demnach ist die Abfangquote binnen von zwei Monaten von knapp 40 auf 6 Prozent gefallen, weil die Russen ihre Raketen technisch angepasst haben und diese jetzt ihre Flugbahnen verändern.

Können die Ukrainer aus der Luft die Abschussrampen in Russland angreifen und so verhindern, dass die Raketen überhaupt abgefeuert werden?

Nehmen wir zum Beispiel eine Boden-Boden-Rakete vom Typ Iskander. Sie ist eine ballistische Rakete, die für Hochwertziele eingesetzt wird. Die Startrampen sind sehr mobil und können rasch verlegt werden. Die Ukraine muss also den Standort aufklären und dann angreifen. Da kommen die USA ins Spiel, denn die stellen ihnen die Zieldaten durch ihre Nachrichtendienstliche Aufklärung zur Verfügung. Darüber wurde immer wieder berichtet. Aber es geht für die Ukraine auch um die notwendigen weitreichenden Waffensysteme. Darum fordert die Ukraine mehr Unterstützung mit weitreichenden Waffensystemen, um solche Luftschläge ausführen zu können.

Das wäre zum Beispiel der Tomahawk-Marschflugkörper der USA?

Tomahawks waren in den vergangenen Jahrzehnten, vor allem wenn die USA einen Konflikt begonnen haben, immer Teil des Eröffnungsschlags, in Afghanistan etwa, wie auch im Irak. Sie würden mit ihrer hohen Reichweite perfekt ins System passen. Zumal seit einigen Wochen sichtbar wird, dass die ukrainische Luftkampagne gegen russische Infrastruktur die Russen sehr unter Druck setzt. Hier werden wirklich messbare Ergebnisse erzielt. Hier kann die Ukraine erfolgreich wirken, im Gegensatz zum Schlachtfeld, wo es fast unmöglich ist, diesen anbrandenden russischen Angriffen wirklich Herr zu werden.

Dann wäre Unterstützung mit Marschflugkörpern für die Ukraine das Gebot der Stunde?

Mit den laufenden Schlägen auf diese russischen Achillesferse braucht es jetzt natürlich alles Mögliche an Waffensystemen, mit den Fähigkeiten, um diesen Angriffsschwung weiter nähren zu können. Neben Tomahawk können das auch der Marschflugkörper FP-5 Flamingo und die Drohne An-196 Ljuty sein, beide werden in der Produktion von Großbritannien und Deutschland unterstützt. Diese Waffen können mit einer Reichweite von 1500 bis 2000 Kilometern wirken, die Drohne ist allerdings deutlich langsamer als der Flamingo. Dieser kann Sprengstoff mit hohem Tempo in weit entfernte Ziele bringen, aber ist er auch störresistent genug?

Nur dann könnte er die russische Verteidigung überwinden, oder?

Genau, und im Wesentlichen scheint der Flamingo diese Fähigkeit zu haben. Die Kosten von 500.000 Dollar pro Stück sprechen allerdings nicht dafür, dass die Waffe technisch sehr ausgereift ist. Man muss aber erstmal abwarten, ob der Flamingo das leistet, was man ihm zuspricht. Tomahawk und auch der deutsche Taurus hingegen sind in der Lage, ihre Navigation zu wechseln, sie haben mehrere Möglichkeiten zur Orientierung. Das macht sie tatsächlich sehr resistent gegen russische Störversuche.

Strategische Luftangriffe auf Russland wären auch eine Möglichkeit, die Infrastruktur in der Ukraine zu schützen. Wie wichtig wird das im kommenden Winter?

Schon im vergangenen Jahr wurde hinter vorgehaltener Hand darüber gesprochen, dass die kritische Infrastruktur in der Ukraine sehr angeschlagen ist. 80 Prozent sei zerstört oder beschädigt, hieß es, auch aus offiziellen ukrainischen Quellen. Darum ist die Sorge groß, dass trotz der Reparaturarbeiten der letzten Monate, dieser Winter die Ukraine an den Rand des Möglichen bringen könnte. Man fürchtet, die Russen könnten die Ukraine mit ihren Luftangriffen in die Knie zwingen. Darum versucht die Ukraine mit aller Vehemenz gegenzuhalten und braucht dafür dringend westliche weitreichende Waffen.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

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