Am Sonntagabend stimmt der Kanzler das Volk auf Härten und Reformen ein und verlangt von der eigenen Regierung Geschlossenheit. Am Folgetag legt das Beratergremium von Wirtschaftsministerin Reiche ein Gutachten vor. Tenor: Die angedachten Maßnahmen der Merz-Regierung seien viel zu wenig.

Ein von Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche eingesetzter Beraterkreis fordert mit einem eigenen Gutachten für eine "Wachstumsagenda" deutlich weitergehende Reformschritte als bislang von der Bundesregierung geplant. "Die deutsche Wirtschaft steckt in einer erheblichen Strukturkrise", heißt es in dem Papier von Veronika Grimm, Justus Haucap, Stefan Kolev und Volker Wieland. Die Ökonomen sind allesamt renommiert, entsprechen mit ihrer wirtschaftsliberalen, ordnungspolitischen Denkschule aber auch weitgehend den Grundüberzeugungen der CDU-Bundesministerin Reiche.

Der Ministerin sei das Papier bekannt, sagte Grimm in einer Presserunde über das auf der Internetseite des Bundesministeriums veröffentlichte Gutachten. Dieses zeichnet ein düsteres Bild von der wirtschaftlichen Gesamtlage und stellt bisher angedachte Reformschritte als unzureichend dar. "Unsere Diagnose ist beängstigend, denn es geht dem Land nicht gut", sagte Volker Wieland, Direktor des Institute for Monetary und Financial Stability (IMFS). Zugleich wenden sich die Ökonomen gegen staatliche Versuche, Branchen und Unternehmen durch Regulierung und Subventionen zu retten. "Langfristig hohes Wachstum entsteht in fortgeschrittenen Volkswirtschaften vor allem durch Innovationen und strukturellen Wandel", so die Ökonomen.

Deregulierung statt Branchen-Rettung

Damit stellen sich die Berater der deutschen Wirtschaftsministerin gegen den Kurs der Bundesregierung, etwa energieintensive Industrien durch subventionierte Strompreise zu retten. Stattdessen empfehlen die Ökonomen, durch Deregulierung neuen Wachstumsbranchen Raum zu schaffen. Ob Datenschutz, Baurecht, Umweltrecht oder Dokumentationspflichten: Es reiche nicht, bürokratischen Aufwand zu reduzieren, sondern es brauche Mut, Regeln ganz abzuschaffen. Reiche mag nicht in allen Punkten übereinstimmen, dem Grundtenor des Gutachtens dürfte sie aber zustimmen. Mehr dürfte am Mittwoch zu erfahren sein, wenn Reiche die Herbstprojektion der Bundesregierung vorstellt.

Ebenfalls am Montag stellte die SPD ein Strategiepapier zur Rettung der deutschen Stahlindustrie vor. Dieses sieht vor, die Wettbewerbsnachteile von europäischem Stahl durch regulatorische Maßnahmen auszugleichen. Reiches Berater dagegen halten die Stahlbranche für weitgehend verloren, weil Deutschland dauerhaft durch hohe Energiepreise belastet sei und international nicht wettbewerbsfähig bleibe. Zuschüsse zum Strompreis aus dem Bundeshaushalt änderten daran nichts.

Ende der Rente mit 63 gefordert

Am Sonntagabend hatte Bundeskanzler Friedrich Merz die Deutschen darauf eingestimmt, dass notwendige Reformen zum Erhalt der Sozialsysteme auch mehr private Aufwendungen zur sozialen Absicherung und Gesundheitsversorgung bedeuteten. Details will die Bundesregierung erst im kommenden Jahr beschließen, wenn die eigens einberufenen Expertenkommissionen ihre Berichte vorgelegt haben.

Mit Blick auf die Finanzierung der Rente, zu welcher der Bund im laufenden Jahr rund 120 Milliarden Euro Steuermittel zuschießen muss, plädierte Merz für eine stärkere Orientierung an der individuellen Lebensarbeitszeit. Reiches Beraterkreis fordert in seinem Gutachten das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung zu koppeln, die sogenannte Rente mit 63 abzuschaffen und den Nachhaltigkeitsfaktor wieder einzuführen. "Wir werden mehr arbeiten müssen, wenn wir den Umfang der Sozialversicherungen bewahren wollen, ohne zeitgleich den nachfolgenden Generationen noch mehr Lasten zu hinterlassen", heißt es in dem Gutachten. Wirtschaftsministerin Reiche hat sich wiederholt für eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 70 Jahre offen gezeigt, wurde dafür aber von der eigenen Regierung gerüffelt.

In Deutschland steigt die Regelaltersgrenze seit 2012 schrittweise je nach Geburtsjahrgang jährlich an. Ab dem Jahr 2031 gilt für die Jahrgänge ab 1964 ein Renteneintrittsalter von 67 Jahren. In diesem Jahr erreicht der Jahrgang 1959 die Regelaltersgrenze mit 66 Jahren und zwei Monaten. Im kommenden Jahr steigt sie für 1960 Geborene auf 66 Jahre und vier Monate. Für die SPD ist an der Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren nicht zu rütteln, ebenso schließt die kleinere der Koalitionsparteien eine Anhebung des Renteneintrittsalters bislang aus.

Steigende Kosten bei geringem Wachstum

Der Beraterkreis Wirtschaft dringt auch beim Bürgergeld und den Kosten für Gesundheits- und Pflegeversicherung auf Reformen. Seit 1990 sei die deutsche Wirtschaft um 50 Prozent gewachsen, während im gleichen Zeitraum die Sozialausgaben um 70 Prozent gestiegen seien. "Das kann so nicht weitergehen, 50 und 70 passt nicht zusammen", sagte der frühere Wirtschaftsweise Volker Wieland. Wirksame Reformen der Sozialkassen seien "unumgänglich", um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, "denn die hohen Abgaben schwächen die Wettbewerbsfähigkeit", so das Beratergremium.

Während Kanzler Merz zuletzt sichtbar um Einigkeit nach außen in der Koalition bemüht war, erhöht Reiche mit dem Gutachten ihrer Berater den Druck auf die sozialdemokratische Arbeitsministerin Bärbel Bas. Diese will in einem ersten Schritt den Druck auf Bürgergeld-Bezieher erhöhen, Arbeit aufzunehmen. Ebenfalls am Sonntagabend sagte auch CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, die Bundesregierung könne und werde beim Bürgergeld Milliardenbeträge einsparen.

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