Linksextremisten fungieren in Bezug auf den Nahost-Konflikt als „Scharfmacher und Mobilisierungstreiber.“ Das schreibt das Bundesamt für Verfassungsschutz in seiner aktuellen Lagebewertung zum 7. Oktober 2023 und die anhaltenden Folgen für die Sicherheitslage in Deutschland. Der Terrorangriff habe in Deutschland eine Protestwelle ausgelöst, die als Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung begann und nun zu einer Bühne geworden sei, auf der linksextreme und islamistische Gruppen ihre Feindbilder vereinen.
Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass sich rund um die Proteste ein fester Kreis radikalisierter Aktivisten gebildet habe. Dieser organisiere Versammlungen, betreibe Propaganda in sozialen Netzwerken und trete bei Demonstrationen als Redner auf. Berlin gilt dabei als Hauptschauplatz dieser Entwicklung. Seit dem Angriff der Hamas registrieren Sicherheitsbehörden in der Hauptstadt einen deutlichen Anstieg antisemitischer Straftaten. Seit dem 7. Oktober 2023 hat die Polizei 7633 Straftaten im Kontext des Nahost-Konfliktes erfasst, davon der größere Teil Propaganda- und sonstige Delikte, aber auch 1750 Gewaltdelikte, etwa bei Demonstrationen.
Allerdings zeige sich die linksextremistische Szene laut Verfassungsschutz in ihrem Verhältnis zu Israel auch vor dem Hintergrund des Nahost-Konfliktes weiterhin gespalten. Autonome Linksextremisten vertreten demnach eher proisraelische Positionen, antiimperialistische und dogmatische Linksextremisten dagegen eher propalästinensische beziehungsweise antizionistische Positionen. Prominentestes Beispiel dieses Konflikts innerhalb der linksextremen Szene ist das teilbesetzte Haus in der Rigaer Straße, wo der Nahost-Konflikt ebenfalls die Bewohnerschaft spaltet.
Der Verfassungsschutz spricht von einer ideologischen „Scharnierfunktion“, die Antisemitismus und Israelfeindlichkeit zwischen Islamisten, türkischen Linksextremen und deutschen Autonomen verbindet. Die Gruppen verstärken sich gegenseitig, indem sie denselben Mythos von Unterdrückung und Befreiung bedienen. Ablehnung und Kritik gegenüber dem Staat Israel beruhten dabei regelmäßig auf einer antiimperialistischen Denkweise.
Am Dienstag jährt sich der Terrorangriff auf Israel zum zweiten Mal. In Berlin wird der Opfer gedacht, gleichzeitig bereitet sich die Polizei auf eine Großlage vor. Für den Abend ist auf dem Alexanderplatz eine propalästinensische Kundgebung unter dem Titel „Stoppt den Völkermord“ angekündigt.
Angemeldet sind 150 Teilnehmer. In Sicherheitskreisen geht man jedoch von mehreren Hundert bis mehr als tausend Personen aus. Nach Informationen aus Ermittlerkreisen hat eine bislang unbekannte Frau die Versammlung angezeigt. Sie gilt in Sicherheitskreisen als Strohfrau. Die tatsächliche Organisation soll aus dem Umfeld der Gruppen „Palästina Spricht“, „Generation Palestine“ und ehemaligen Aktivisten des inzwischen verbotenen Netzwerks „Samidoun“ stammen. Diese Gruppierungen mobilisieren seit Wochen für den zweiten Jahrestag des Terrorangriffs. Auf dem Flyer, der für die Veranstaltung wirbt, ist auch ein Gleitschirmflieger zu sehen. Mit solchen Fluggeräten war die Hamas am 7. Oktober 2023 nach Israel eingedrungen.
Die Polizei bereitet sich auf eine größere Einsatzlage vor. 1400 Beamte sind im Dienst, unterstützt von Kräften aus Brandenburg, Sachsen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern. Der Einsatz wird aus der Direktion Einsatz geführt, die in der Regel nur bei politisch bedeutsamen Lagen eingreift. Im Mittelpunkt stehen der Alexanderplatz, die Sonnenallee, der Hermannplatz. Eine Polizeisprecherin sagte WELT, dass insbesondere die jüdischen Einrichtungen der Stadt geschützt würden.
Zahlreiche Menschen wollen in Berlin auch der Opfer des Massakers am 7. Oktober gedenken. Am Brandenburger Tor werden etwa die 1200 Namen der Opfer verlesen, die Worte „Bring them home now“ werden auf das Bauwerk projiziert und eine Ausstellung über das Nova-Festival im stillgelegten Flughafengebäude in Berlin-Tempelhof eröffnet. Am Bebelplatz in Berlin-Mitte findet eine Mahnwache gegen Antisemitismus statt.
Intern rechnen die Behörden im Zuge der propalästinensischen Demonstrationen mit Landfriedensbrüchen und Angriffen auf Einsatzkräfte. Polizeipräsidentin Barbara Slowik Meisel sprach gegenüber dem „Tagesspiegel“ von einer angespannten Sicherheitslage. Es gebe keine konkreten Hinweise auf Anschläge, doch die Polizei rechne mit spontanen Demonstrationen und aggressiven Gruppen. „Wer unfriedliche oder strafbare Handlungen begeht, muss mit konsequentem Einschreiten rechnen“, sagt Polizeisprecher Florian Nath.
Die Verfassungsschützer sehen in den Aufrufen indes ein Muster, das sich seit 2023 wiederholt. Propalästinensische Demonstrationen dienen radikalen Gruppen als Plattform, um ihre Agenda zu verbreiten. In der Rhetorik der Veranstalter verschmelzen Begriffe wie „Antizionismus“, „Befreiung“ und „Widerstand“ zu einer Legitimierung von Gewalt.
Die Hamas werde dabei nicht als Terrororganisation, sondern als Ausdruck einer revolutionären Bewegung dargestellt. Diese Deutung findet in Teilen der linken Szene Anschluss. Der Verfassungsschutz beobachtet, dass linksextreme Gruppen den Nahost-Konflikt nutzen, um neue Anhänger zu gewinnen und den Staat als Komplizen Israels zu diffamieren. Der Konflikt werde so zu einem ideologischen Hebel, der alte Strukturen der Autonomen wiederbelebt.
Berlin ist dafür der wichtigste Schauplatz. Die Sicherheitsbehörden sprechen von einem „harten Kern“, der Demonstrationen dominiert und sie gezielt emotionalisiert. Bei den Ausschreitungen am Kottbusser Damm vor knapp zwei Jahren wurden 65 Polizisten verletzt. In Neukölln flogen regelmäßig Steine und Flaschen bei Kundgebungen.
Auch die Gewerkschaft der Polizei warnt, dass der Nahost-Konflikt die Straßen der Hauptstadt verändert hat. „Der Nahost-Konflikt sorgt seit nunmehr zwei Jahren für massive Auswirkungen auf Berlins Straßen, weil die radikale Pro-Pali-Szene auf Basis des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit immer wieder Gewaltexzesse veranstaltet“, heißt es in einer Mitteilung der Gewerkschaft.
Das deckt sich mit der Einschätzung des BfV, wonach antisemitische und israelfeindliche Narrative in Deutschland zunehmend Anschlussfähig seien. Die Grenze zwischen politischem Protest und extremistischer Agitation verschwimme dabei. Die Folge sei eine dauerhafte Mobilisierung, die sich an jedem Ereignis in Gaza oder Israel entzündet.
Während die Sicherheitsbehörden Alarm schlagen, ist der Konflikt auch längst in den Universitäten angekommen. An der Technischen Universität Berlin lud etwa eine Geschlechterforscherin im vergangenen Winter zu einem Gespräch mit der studentischen Initiative „Not in Our Name“ in die TU ein. Die Mail wurde über den offiziellen Verteiler der Universität verschickt und liegt WELT vor.
Die Gruppe bezeichnet Israel als Kolonialprojekt und relativiert die Gewalt der Hamas. Es ist eines von vielen Beispielen. Auch Sicherheitsbehörden warnen, dass linksextreme Akteure gezielt versuchen, ihre Narrative in Bildungseinrichtungen zu verankern und den Diskurs über Antikolonialismus und Feminismus für ihre Zwecke zu nutzen.
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