Am Vorabend des Tags der Deutschen Einheit lud die Bundesratspräsidentin und saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (SPD) die Spitzen der deutschen Verfassungsorgane zum Familienessen in ihre Heimat ein. Und die SPD-Politikerin brach mit den Traditionen deutscher Hausmannskost. Das Essen kochte und servierte 3-Sterne-Koch und WELT-Kolumnist Christian Bau.

In der „FAZ“ erschien dazu ein köstlicher Erlebnisbericht: „Grünen Apfel mit Räucheraal und Gänseleber, eine Tartelette von heimischen Pilzen mit Soja, Bonito mit Koshihikari-Reis und Nori-Algen, einen saarländischen Bio-Ochsen mit Räucherfischcreme, Saibling aus dem nahen Losheim mit Katsuobushi und Myoga, das sind Bonito-Flocken und japanischer Ingwer; und schließlich eine Croustade von Ama Ebi“, sollen Kanzler Friedrich Merz (CDU), Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) und die anderen Gäste bekommen haben. Was eine Revolution ist.

Die wahre Staatsräson Deutschlands ist eigentlich der parteiübergreifende ästhetisch-kulturelle Analphabetismus der politischen Klasse. Die vernachlässigten zerknitterten Hosen und die zu langen Sakko-Ärmel der Männer, die verzweifelt nach Stil und Aufstieg schreienden Louis-Vuitton-Handtäschchen der Frauen, sind keine nebensächlichen Nachlässigkeiten, sie sind Ausdruck einer totalen Bildungskrise. Politiker reden gerne von wirtschaftlichem Aufschwung, und wenn es passt, trompetet auch so einer wie Till Brönner mal im Kanzleramt, aber den kulturellen Niedergang sehen sie gar nicht. Diese Menschen ignorieren Kultur nicht nur, sie wissen nicht, was Kultur eigentlich ist.

Politiker mögen Otto Waalkes und Udo Lindenberg

Pflicht- und Prestige-bewusst ziehen sich Politiker Abschlussball-Kleider- und Anzüge an und dackeln nach Bayreuth zu den Wagner-Festspielen. Bundesverdienstkreuze werden an Künstler wie Otto Waalkes und Udo Lindenberg verliehen. Kunst und Kultur wurde in den vergangenen Jahren gefördert, wenn sie irgendwelche identitätspolitischen Quoten erfüllten oder „unsere Demokratie“ schützten. Kultur ist zu etwas geworden, was man mit Geld füttert, wenn es stromlinienförmig und angepasst, ein bisschen antisemitisch und ansonsten harmlos daherkommt.

Aber wenn ein Schriftsteller wie Marko Martin dem Bundespräsidenten im Schloss Bellevue mit einer krachenden Rede auf die Fußmatte pinkelt, tobt so einer wie Steinmeier natürlich. Für ihn und die vergangenen Bundesregierungen haben Künstler und Kulturschaffende gefälligst Transferempfänger zu sein. Dankbar Förderungen Empfangende, denen man ein bisschen Geld zum Überleben hinwirft, damit sie brav und staatstragend werden, wenn sie es nicht schon sind.

Aber ein besonders wichtiger Teil dessen, was wir Kultur nennen, nämlich die Gastronomie und besonders die Sterne-Gastronomie, kommen in staatspolitischen Zusammenhängen eigentlich gar nicht vor. Was auch naheliegend ist. Menschen, die keine Subventionen empfangen – Restaurants sind als Unternehmen auf sich allein gestellt – sind maternalistischen Regierungen schlicht unheimlich. Sie sind im besten Sinne selbstständig und mündig. Dazu zählen sie im protestantischen Kirchentagsdeutschland zum verschwenderischen Feind, der mit Kampfstoffen wie Kaviar, Hummer, Champagner und Austern Kriegsverbrechen begeht.

Sterne-Gastronomen leisten Bildungsarbeit

Tatsächlich aber leisten Sterne-Gastronomen Unfassbares. Wirtschaftlich und kulturell. In die kulinarisch trostloseste Stadt Deutschlands locken sie aus der ganzen Welt Menschen, die sich für Essen interessieren. Die wiederum in Berlin essen, trinken, übernachten und schlafen gehen – also Geld da lassen. Die Sterne-Gastronomen leisten Bildungs- und Kulturarbeit.

Im Restaurant Nobelhart & Schmutzig, bisher vier Mal unter die 50 besten Restaurants der Welt gewählt, zeigt Koch Micha Schäfer eindrücklich, wie die Kulturlandschaften Berlin und Brandenburg schmecken. Schäfer serviert weder Hummer noch Kaviar, noch Austern, sondern Sauerteigbrot, Kürbis, Kartoffel, Äpfel, Zwiebeln, Birne, Müritz-Aal, Pflaumen und Ente. Das Abendessen dort ist eine Exkursion ins Unbekannte der naheliegenden Heimat. Wer weiß denn noch, wie all die alten Obst- und Gemüse-Sorten schmecken und die Kräuter, von denen keiner je gehört hat.

Wenige Meter weiter die Friedrichstraße hinunter dekonstruiert Tim Raue die Peking-Ente. Er schafft eine Verneigung vor dem afroamerikanischen Feelgood-Klassiker Chicken & Waffles und kreuzt ihn mit französischer und asiatischer Hochküche.

Köche verbinden Kulturen und bringen Ideen und Techniken aus anderen Ländern mit. Die Münchner 2-Sterne-Köchin Rosina Ostler(Deutschlands jüngste übrigens) hat in einem 3-Sterne-Lokal in Oslo gelernt, ehe sie das Alois von Dallmayr übernahm. Sie hat den Holzkohlegrill und das Fermentieren aus der skandinavischen Küche mitgebracht. Sie serviert Saiblingsleber (eigentlich ein Abfallprodukt) mit Molke und Hollunder oder Hirsch à la Wellington. Sternemenüs sind wie eine Wagner-Oper ganz groß inszenierte Kunstwerke, in denen alles ineinander greift.

Hauptsache nicht speisen wie Habeck

Als Robert Habeck gerade Vorsitzender der Grünen geworden war, war ich mit ihm Gast bei einem Abendessen in einem Berliner Sternelokal. Wir waren beide unabhängig voneinander vom Gastgeber eingeladen worden. Und als die Gerichte serviert wurden, sagte Habeck zu einem der Kellner: „Toll, wie Sie das alles machen. Aber wo haben Sie eigentlich die Rezepte her? Aus dem Internet?“ Und man kann das natürlich bürgernah finden, so wie Angela Merkels Hering essen, Söders Wurst-Orgien oder Olaf Scholz‘ Fischbrötchen-Runde mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron.

Aber es ist ignorant. Würde jemand wie Habeck die Geigerin Anne-Sophie Mutter nach einem Konzert fragen, ob sie das Spielen aus einem YouTube-Tutorial habe, würde man zu Recht die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Ignoranz und fehlende Bildung sind nichts, worauf man stolz sein sollte.

Insofern ist Anke Rehlingers Einladung zum 3-Sterne-Abendessen wirklich ein großer Moment bundesrepublikanischer Schönheit. Es ist eine Einladung zum Reden und Nachdenken. Denn dafür sind Kunst und Kultur eben da. Egal, ob ein Strickbild von Rosemarie Trockel, eine Theater-Inszenierung von Florentina Holzinger oder ein grüner Apfel mit Räucheraal und Gänseleber: Das ist menschlicher Ausdruck, der uns etwas über die Welt sagt. Natürlich kommen die üblichen Untergang-des-Abendlandes-Hansel jetzt wieder mit dem Vorwurf von Prasserei und Völlerei daher und nennen es „Volksverachtung“. Aber in Wahrheit ist es die Anerkennung von kultureller Leistung. Die Sterne-Küche erfährt das in Deutschland viel zu selten.

Frédéric Schwilden ist Autor im Politik-Ressort. Er interviewt und besucht Dorf-Bürgermeister, Gewerkschafter, Transfrauen, Techno-DJs, Erotik-Models und Politiker. Er geht auf Parteitage, Start-up-Konferenzen und Oldtimer-Treffen. Seine Romane „Toxic Man“ und „Gute Menschen“ sind im Piper-Verlag erschienen.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke