Deutsche Kirchen sind in Jerusalem durch eine evangelische Gemeinde vertreten, die ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert hat. Die zentrale evangelische Kirche ist die Erlöserkirche in der Altstadt, die 1898 von Kaiser Wilhelm II. eingeweiht wurde. Zusätzlich besteht die Dormitio-Abtei seit Anfang des 20. Jahrhunderts als wichtige deutschsprachige katholische Präsenz. Bis heute werden in diesen Kirchen deutschsprachige Gottesdienste gefeiert und seelsorgliche sowie soziale Arbeit geleistet. WELT hat den evangelischen Propst (leitendes geistliches Amt eines Kirchenkreises, Anm. d. Red.) Joachim Lenz in Jerusalem zum Gespräch getroffen.

WELT: Propst Lenz, nach dem letzten Evangelischen Kirchentag wurde von vielen Seiten hart kritisiert, die Kirche verliere sich im Zeitgeist, kümmere sich um alles – nur nicht um die wirklich entscheidenden Fragen. Hat Sie das, gerade mit Blick auf Ihre Arbeit in Jerusalem, bewegt?

Joachim Lenz: Ja, das bewegt mich, und ich habe die Debatten auch aufmerksam verfolgt. In der Diskussion in Deutschland fehlt, dass in zentralen Fragen wie dem Nahostkonflikt beide Seiten öffentlich zu Wort kommen. Solche Podien wären dringend nötig. Aber es gibt offenbar kaum noch Menschen, die bereit sind, sich in dieser hoch polarisierten Lage vor Publikum zu äußern. Dass auch der Kirchentag, der einmal gegründet wurde, um schwierige Fragen zu stellen, da nicht weiterkam, hat mich enttäuscht.

WELT: Wie versuchen Sie vor Ort, gegenzusteuern?

Lenz: Als evangelische Kirche in Jerusalem suchen wir hier bewusst Gespräche mit möglichst vielen Menschen – nicht nur über sie. Wir hatten zuletzt auch Kirchen leitende Persönlichkeiten zu Gast, die mit beiden Seiten ins Gespräch gekommen sind. Deutschland wird seit dem Terroranschlag (vom 7. Oktober 2023, Anm.) von vielen Palästinensern als nur proisraelisch betrachtet. Dem halte ich entgegen: Die Bundesrepublik hat seitdem 350 Millionen Euro an humanitärer Hilfe für Gaza und die Westbank geleistet, zusätzlich zu EU-Mitteln. Zugleich stellen sich evangelische Kirchen in Deutschland sehr klar gegen Antisemitismus, der leider massiv zugenommen hat. Unsere Verantwortung liegt auf beiden Seiten: solidarisch mit Leidenden zu sein, ohne politische Lösungen vorzuschlagen, die uns gar nicht zustehen.

WELT: In Deutschland lautet die Kritik oft: Die evangelische Kirche sei zu politisch, sie verliere ihre spirituelle Kraft. Ist da etwas dran?

Lenz: Diese Wahrnehmung ist verzerrt. Sie trifft regelmäßig den Kirchentag, dabei gibt es dort immer hunderte von Gottesdiensten, Gebeten und Andachten – die sind das Herzstück, nicht tagespolitische Reden. Aber öffentlich entsteht ein anderer Eindruck. Erst recht lebt die evangelische Kirche insgesamt in Gottesdiensten, Jugendarbeit, Seelsorge, Diakonie, Musik, Gemeinschaftsangeboten – das ist doch nicht „zu politisch“! Und ja, manchmal wird gesagt, uns fehle Spiritualität. Doch die Begründung, warum wir als Protestanten das Existenzrecht Israels verteidigen und zugleich an der Seite palästinensischer Christen stehen, speist sich aus tiefen theologischen Überzeugungen. Es geht nicht um Politik im engen Sinn, sondern um die Treue Gottes zu seinem Volk und um die Treue Gottes zu den kleinen Gemeinden, die hier ausharren.

WELT: Wie verändert der Krieg Ihren Alltag in Jerusalem?

Lenz: Wir sind in unserer Erlöserkirche nur eine kleine Gemeinde, manchmal 15, manchmal 40 Menschen. Aber diese Gottesdienste sind unglaublich dicht. Wir sitzen im Stuhlkreis, beten, hören aufeinander – und erleben Gott sehr konkret. Wir haben zum Beispiel einen Adventsstern im Altarraum hängen, das ganze Jahr über. Für uns ist er ein Zeichen: Der Friedefürst ist angekündigt, er ist da. Hoffnung wachhalten – gerade hier im Heiligen Land – ist unsere Hauptaufgabe.

WELT: Hat sich Ihr eigener Glaube in den Jahren als Propst in Jerusalem verändert?

Lenz: Ich habe Theologie studiert, um Pfarrer auf dem Dorf zu werden, und acht Jahre lang war ich das an der Mosel. Später war ich Assistent an der Uni, Kirchentagspastor, Missionsdirektor. Heute bin ich hier in Jerusalem. Die Stationen unterscheiden sich sehr, aber die Grundfrage ist die gleiche geblieben: die frohe Botschaft zu verkünden. Ob jemand in Not betrunken auf einer deutschen Straße liegt oder ob hier Familien um ihr Überleben ringen – das Versprechen gilt: Gott liebt dich. Meine Grundaussagen haben sich nicht verändert, nur mein Blick auf sie wurde weiter.

WELT: Wenn Sie nach Deutschland reisen: Was erzählen Sie den Menschen über die Lage in Jerusalem?

Lenz: Das Erste: Wir leben hier als Deutsche sehr privilegiert. Raketen fallen nicht auf Jerusalem, im Notfall gäbe es sogar Evakuierungspläne. Gleichzeitig erzähle ich: Israel ist ein traumatisiertes Land. Das erklärt die Härten, die nach außen oft kaum zu verstehen sind. Und ich erzähle von den Palästinensern, die unter Besatzung, Armut und Frust leben. Ich versuche Verständnis für beide Seiten zu wecken und davor zu warnen, dass man in Deutschland leichtfertig zum Richter über die Region wird. Je länger man hier ist, desto komplexer wird alles.

WELT: Jerusalem bedeutet – „nichts und alles“, wie es im Hollywoodfilm „Königreich der Himmel“ über die Kreuzzüge heißt. Ist das eine passende Beschreibung?

Lenz: Ja, absolut. Die Altstadt ist winzig, ein Quadratkilometer, und gleichzeitig bündelt sich hier Weltgeschichte. Die Psalmen sagen: „Jerusalem ist gebaut als eine Stadt, in der man zusammenkommen soll.“ Wenn hier Menschen lernen würden, friedlich zusammenzuleben, gäbe das Hoffnung weit über die Grenzen hinaus. Wer, wenn nicht die, die in dieser Stadt Glauben teilen? Und wenn nicht hier, wo sonst?

WELT: Was bleibt Ihre persönliche Quintessenz nach fast zwei Jahren Krieg?

Lenz: Wir als Kirche haben kein Mandat für politische Lösungen. Unser Mandat lautet: Menschen zu begleiten, ihre Hoffnung zu stärken, für den Frieden zu beten. Wenn wir das in Jerusalem nicht tun – wo sonst?

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