Erst der Überfall der Hamas, dann der Beginn der Bodenoffensive im Gazastreifen, nun die Kämpfe um Gaza-Stadt. Israels Militär geht von einem langwierigen Einsatz aus. Doch die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu fordere mehr Tempo, sagt Nahost-Experte Simon Wolfgang Fuchs. Dabei stehe sie vor mehr als einem Dilemma.
ntv.de: Sie arbeiten seit September 2023 als Professor für Islamwissenschaften an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Wie haben Sie den Überfall der Hamas-Terroristen auf Israel am 7. Oktober erlebt?
Simon Wolfgang Fuchs: Ich war an diesem Tag auf einer Konferenz in Düsseldorf und wollte eigentlich am 8. Oktober zurückfliegen. Meine Frau und mein Sohn waren in Jerusalem. Meine Frau rief mich am Morgen des 7. Oktober an und sagte, es sei etwas passiert, aber noch wisse niemand, was genau. Meine Flüge wurden dann gestrichen. Ich konnte erst am 10. Oktober zurückfliegen. Ich bin in Jerusalem in dieser völlig gespenstischen Stimmung angekommen, in einem Moment, in dem viele das Land unbedingt verlassen wollten. Die ganze Stadt war verwaist. Keine Geschäfte waren offen, niemand hat sich mehr draußen aufgehalten.
Israel reagierte militärisch auf den Überfall. Die Armee setzt ihre Bodenoffensive im Gazastreifen fort und fokussiert sich auf die Einnahme von Gaza-Stadt als eine der Hochburgen der Hamas. Wie hoch schätzen Sie die Chancen ein, die Terroristen auf diese Weise zu stoppen?
Es ist nicht klar, welches der Kriegsziele für die israelische Regierung Priorität hat: Will sie möglichst viele Hamas-Kämpfer töten? Will sie deren Tunnel-Netzwerk komplett zerstören? Bei den Erfolgsaussichten klaffen jedenfalls die Erwartungen der Regierung und die Prognosen der Armee der Armee weit auseinander. Die israelische Regierung möchte, dass alles schnell über die Bühne geht und die Gaza-Stadt eingenommen wird. Die Armee hat aber deutlich gemacht: Das wird ein langer Prozess sein. Die Offensive in Gaza-Stadt könnte bis zu einem Jahr dauern. Die Vorkehrungen, um die geflüchteten Menschen unterzubringen, wurden aber noch nicht geschaffen. Ein weiteres Dilemma: Israels Armee erklärte schon einige Gebiete in Gaza als von der Hamas befreit - und dann tauchten doch wieder Terroristen aus Tunneln auf.
Generell warnte die militärische Führung laut Medienberichten vor der Offensive in Gaza-Stadt. Wie steht es um die Kampfmoral der Truppen heute?
Es gibt eine interessante Zahl, die von der israelischen Armee veröffentlicht wurde: 80 Prozent der einberufenen Reservisten haben sich zum Militärdienst gemeldet. Aber diese Zahl verschleiert, dass viele von ihnen nur in Teilzeit in der Reserve stehen. Israels Armee insgesamt hat sich stark verändert. Gerade in den kämpfenden Einheiten gibt es inzwischen ein regelrechtes Söldnertum innerhalb der Armee. Die Bulldozer, die bei der Zerstörung von Wohngebieten eingesetzt werden, lenken nicht etwa Angehörige des Militärs, sondern Mitarbeiter privater Unternehmen, die mit israelischen Siedlern in Verbindung stehen. Langfristig befürchte ich deshalb eine gewisse ideologische Aushöhlung der Armee.
Wie dramatisch ist die humanitäre Lage in Gaza?
Es gibt einen Rückgang der akuten Hungergefährdung, da mehr Hilfe in bestimmte Teile des Gazastreifens kommt. Aber noch immer üben manche Hilfsorganisationen massive Kritik. Ärzte ohne Grenzen etwa hat die Arbeit in Gaza-Stadt eingestellt, mit der Begründung: Inmitten dieser Kampfhandlungen können wir keine Hilfe mehr leisten. Zudem wird Israel weiterhin vorgeworfen, internationale Organisationen bewusst an der Verteilung von Hilfe zu hindern. Es gibt etwa bestimmte Prozesse der Registrierung, bei denen die Organisationen die Daten palästinensischer Mitarbeiter offenlegen müssen. Auch wird versucht, die Hilfskanäle über die Gaza Humanitarian Foundation umzuleiten, eine von den USA und Israel gestützte Organisation, da das Vertrauen in andere internationale Akteure gering ist. Obwohl sich die Lage verbessert hat, ist die Gefahr von Hunger nicht gebannt. Auch die medizinische Versorgung ist desolat nach den israelischen Angriffen auf Krankenhäuser.
US-Präsident Donald Trump hat einen Plan mit Schritten auf dem Weg zum Frieden in Gaza vorgeschlagen. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu stimmte dem Vorschlag zu, lehnt aber weiter einen möglichen Rückzug der israelischen Armee und eine Zwei-Staaten-Lösung ab. Hat Netanjahu wirklich ein Interesse daran, die Gaza-Offensive zu beenden?
Der einzige Teil von Trumps Plan, dem das israelische Kabinett bislang zustimmt, ist der Vorschlag, palästinensische Gefangene freizulassen im Tausch für die von der Hamas festgehaltenen Geiseln. Der Rest des Vorschlags ist so kontrovers, dass bislang nicht einmal eine Abstimmung darüber anberaumt wurde. Deshalb bin ich pessimistisch, was Trumps Initiative angeht. Israel hat dem US-Präsidenten gegenüber scheinbar Zugeständnisse gemacht, sie dann aber wieder abgeschwächt. Trumps Plan sieht vor, die Palästinensische Autonomiebehörde, falls sie sich reformiert, an der Herrschaft über Gaza zu beteiligen. Israel schließt aber explizit aus, dass die Autonomiebehörde künftig eine Rolle spielen darf. Israel arbeitet generell nicht auf einen zusammenhängenden palästinensischen Staat hin, sondern auf die Zersplitterung des Gazastreifens in kleinere, selbstverwaltete Gebiete.
Besonders die rechtsradikalen Kräfte in Netanjahus Regierung pochen darauf, die Offensive in Gaza weiterzuführen. Wie stehen die gemäßigteren Parteien und die Opposition in der Knesset zur Politik gegenüber den Palästinensern?
Einerseits fordert die israelische Opposition ein Ende des Kriegs im Gazastreifen. Andererseits will sie sich nicht auf eine andere Politik einlassen, was die Siedlungen im Westjordanland angehen. Auch die französisch-saudische Initiative für die Anerkennung eines palästinensischen Staates wurde von fast allen Mitgliedern der Opposition verurteilt, außer von kleinen arabischen und linken Parteien, die keine Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund ist es etwas irritierend, dass dieser Plan von Trump in Israel von allen Seiten gelobt worden ist.
Trump hatte Netanjahu vor einer Annexion des Westjordanlands durch israelische Siedler gewarnt. Wie ist die Lage dort?
Die Frage vorneweg ist: Wie lange hat Trump noch Interesse daran, den Druck auf Israel aufrechtzuerhalten? Trumps Warnung wird zunächst einmal dazu führen, dass die israelische Regierung davor zurückschrecken wird, eine Annexion des Westjordanlands offiziell als Plan umzusetzen. Ohnehin will sie nicht die großen Bevölkerungszentren wie Hebron, Ramallah, Jenin und Nablus annektieren, weil das mit der Versorgung vieler Menschen einhergehen würde. Seit dem 7. Oktober nimmt aber eine schleichende Annektierung an Fahrt auf, das sieht man an den Genehmigungen für neue Siedlungen. Das Gebiet, das sich Israel im Westjordanland auf illegale Art und Weise einverleibt hat, ist inzwischen dreimal so groß wie der Gazastreifen.
Die Idee eines palästinensischen Staats hat momentan auch kaum Rückhalt in der israelischen Bevölkerung, oder?
Absolut. Und es fällt schwer, das zu begreifen, weil Israel mit der Palästinensischen Autonomiebehörde jeden Tag zusammenarbeitet und die Sicherheit koordiniert - sie aber dennoch offiziell als Terrorgebilde bezeichnet. Der Überfall am 7. Oktober hat dazu geführt, dass die Israelis gar kein Vertrauen mehr in die Palästinenser und deren Organisationen haben. Es herrscht eher die Meinung vor, das palästinensische Gebiet durch militärische Stärke unter Kontrolle bringen zu können. Daher kommt auch die Idee der israelischen Regierung, Gaza in kleine Verwaltungsgebiete aufsplitten, damit kein groß angelegter, gefährlicher Aufstand entstehen kann.
Kritik an der israelischen Regierung gibt es von den Angehörigen israelischer Geiseln. Noch immer befinden sich 47 Menschen in der Gewalt der Hamas, 22 von ihnen sollen noch am Leben sein. Was fordern die Angehörigen?
Sie fordern vor allem ein Kriegsende und einen Deal mit der Hamas, um ihre Familienmitglieder zurückzubekommen. Sie lehnen die Militäroffensive in Gaza ab, weil das nicht nur die lebenden Geiseln gefährdet, sondern auch potenziell dazu führen könnte, dass man die Leichen der Verstorbenen unter den Trümmern nicht mehr finden kann. Von den Angehörigen gibt es aber kaum Forderungen, was den Tag nach einem möglichen Deal betrifft. Das ist verständlich aus der Perspektive der Betroffenen.
Was müsste aus Ihrer Sicht passieren, damit es irgendwann zu einem Waffenstillstand oder vielleicht sogar zu Friedensverhandlungen kommt?
Positiv ist trotz aller Bedenken die internationale Zustimmung zu Trumps Plan und die Bereitschaft der arabischen und muslimischen Staaten, für die Friedenssicherung im Gazastreifen möglicherweise Truppen zu entsenden. Denn das wären Truppen, denen die lokale Bevölkerung vertrauen kann. Dennoch bleibe ich skeptisch. Die USA könnten ihren Druck auf Israel erhöhen. Trump könnte aber auch wieder das Interesse daran verlieren, für Frieden im Gazastreifen zu sorgen. Und die Hamas hat überhaupt kein Interesse an einem Kriegsende, solange sie von den USA keine Sicherheitsgarantien bekommt. Die Geiseln sind ihr letztes Faustpfand.
Mit Simon Wolfgang Fuchs sprach Lea Verstl
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