Die neuen Herren in Syrien tragen Bärte, lange Bärte. Geht man durch Damaskus, so fallen auch die vollverschleierten Frauen auf. Nach dem Sturz von Machthaber Baschar al-Assad sei der Nikab, der bis auf die Augen das gesamte Gesicht verhüllende schwarze Schleier, keine Seltenheit mehr, sagen Damaszener, die die bitteren Jahre des Bürgerkriegs in der Hauptstadt verbracht haben. Die Mehrheit der Syrerinnen aber trägt den Hidschab, das alle Haare verdeckende Kopftuch, das das Gesicht frei lässt. Nur Christinnen und Alawitinnen tragen keine Kopfbedeckung. Die Drusinnen haben sich noch nicht entschieden – manche tragen Kopftuch, andere nicht.
Der Schleier scheint zum Identitätsmerkmal der unterschiedlichen Volksgruppen geworden zu sein. Darüber wird hier genauso leidenschaftlich diskutiert wie in Europa. Abdel Rhani sitzt vor seinem Laden am Platz vor der historischen Umayyaden-Moschee in der Altstadt von Damaskus und meint, dass die Bärte in Syrien bald wieder kürzer und keine Vollschleier mehr zu sehen sein werden.
Er verkauft Schmuck und Gemälde von Damaszener Künstlern. Fünf bis zehn Jahre werde es dauern, bis Syrien auf die Beine komme, prophezeit der 23-Jährige, „dann rasieren sich alle wieder ihren Bart ab“. Die Islamisten werden verschwinden, da ist er zuversichtlich.
Syrien befindet sich in einem gewaltigen Umbruch. Am 8. Dezember 2024 wurde in Syrien das Assad-Regime durch eine von Hajat Tahrir al-Scham (HTS) angeführte islamistische Rebellenallianz gestürzt. Die Übergangsregierung unter Ahmad al-Scharaa steht nun vor immensen Herausforderungen – wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch. Noch hat sie nicht die Kontrolle über das gesamte Territorium des Landes errungen, dschihadistische Gruppierungen bleiben eine Bedrohung.
Außerdem birgt das Vorgehen einiger regionaler und internationaler Akteure die Gefahr, Syrien zu destabilisieren und den Übergangsprozess zu sabotieren. Ausschreitungen in der Küstenregion am Mittelmeer zwischen Alawiten und Sicherheitskräften der neuen Regierung oder den Drusen in der Provinz Suweida im Süden sind hier nur der Anfang. Im Vielvölkerstaat Syrien muss jeder seinen Platz erst noch finden und will ein Stück vom Kuchen abbekommen.
Nach mehr als fünf Jahrzehnten soll es nun Wahlen geben. Auf Nachfrage reagieren die Angestellten im Informationsministerium jedoch mit Schulterzucken: „Nein, darüber wissen wir nichts.“ Sie hätten davon gehört, dass so etwas stattfinden solle, aber da müsste man bei der Stadtverwaltung nachfragen, das werde auf Provinzebene organisiert.
Bei der Stadtverwaltung von Damaskus ebenso ratloses Kopfschütteln. Der Chef der Presseabteilung, ein Bärtiger in schwarzem Anzug, weiß von nichts. An seinem rechten Ringfinger prangt ein klobiges Gerät, das die Anzahl der Gebete registriert, die er den Tag über absolviert. Jedes Mal, wenn er Allahs Namen nennt, zeichnet es auf. Er werde sich erkundigen, was es mit den Wahlen auf sich habe und zurückrufen. Er ruft nie zurück.
Das „Havana Café“ im Zentrum von Damaskus ist aus der Zeit gefallen. Hier trafen sich vor dem Ende der Assad-Diktatur Mitglieder und Verantwortliche der Baath-Partei, die sich die Assads zu eigen gemacht hatten und ihnen als Machtbasis diente. Sie war der syrische Ableger der gesamtarabischen Baath-Partei, anfangs sozialistisch und panarabisch orientiert, später dann diktatorisch herrschende Einheitspartei.
In dem Café sitzt Sophie Bischoff von der internationalen Menschenrechtsorganisation „Adopt a Revolution“, die die syrische Zivilgesellschaft unterstützt und seit 2012 in und zu Syrien arbeitet. Sie trinkt einen frischen Maulbeersaft und erklärt, was es mit den Wahlen in Syrien auf sich hat: 7000 Wahlmänner und Wahlfrauen im ganzen Land, die auf lokaler Ebene bestimmt werden, wählen 140 Abgeordnete, 70 Abgeordnete werden vom Präsidenten ernannt.
Al-Scharaa selbst sprach in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung in New York nicht von einem Parlament, das jetzt gewählt werde, sondern von einem Legislativrat, der dann ein Wahlgesetz erarbeite, wonach dann ein endgültiges Parlament gewählt werde. Eine Verfassung solle dieser Legislativrat ebenfalls ausarbeiten. Der Wahltermin wurde immer wieder verschoben, von Mitte September auf Ende September, nun ist der 5. Oktober angesagt.
„Das ist alles, was im Moment geht“, schätzt Bischoff die Lage ein. Sie und „Adopt a Revolution“ wollen so lange in Syrien bleiben, bis allgemeine, demokratische Wahlen stattgefunden haben. Das sei aber jetzt noch zu früh, sagt die 40-jährige Leipzigerin. Die Zivilgesellschaft als Rückgrat der Demokratie sei zwar sehr aktiv und lebendig, auch wenn sie unterschiedlich ausgeprägt sei – je nachdem, wie sich die einzelnen Teile des Landes im 13 Jahre dauernden Bürgerkrieg entwickelt hätten.
In Damaskus, das bis zum Schluss unter der Kontrolle des Diktators al-Assad war, konnten sich so gut wie keine zivilgesellschaftlichen Aktivitäten entwickeln, im Norden umso mehr. Im kurdischen Nordosten dagegen ist alles in der Hand der autonomen Selbstverwaltung.
Sie beobachte derzeit eine Teilung der Zivilgesellschaft zwischen denjenigen, die in die jetzige Regierung eingebunden sind, und anderen, die außerhalb des Machtzentrums agieren, so Bischoff. „Adopt a Revolution“ strebt eine Vernetzung der zivilgesellschaftlichen Organisationen im Land an. Bis jetzt hätten sie etwa 20 Partnerorganisationen gefunden.
Wohin steuert Syrien? Das fragen sich derzeit die meisten der gut 25 Millionen Syrerinnen und Syrer, die im Land leben. Bedenken haben viele, es gibt aber auch etliche, die zuversichtlich sind. Die Widersprüche, die sich derzeit auftun, sind jedoch eine Belastung für alle und verunsichern die Syrer.
Besonders die Älteren, die es in 50 Jahren Assad-Diktatur gewohnt waren, Direktiven und Befehle von oben zu erhalten, kritisieren die Entscheidungsträgheit der neuen Regierung. Diese geht mit äußerster Vorsicht voran, immer abwartend, wie viel Widerstand sie für eine Entscheidung bekommt. Das schaffe ein Vakuum, sagen die einen, Handlungsspielraum nennen es die anderen. Und so geschieht derzeit vieles in Syrien parallel.
„Wissen nicht mal, wie viele Einwohner Syrien derzeit hat“
„Das ist alles, was im Moment geht“, sagt auch Abdulkarim Laila an seinem Schreibtisch in Aleppo, Syriens zweitgrößter Stadt. Die Wahlen jetzt seien eine Probe, wie vieles derzeit im Land. Allgemeine Wahlen könnten nicht abgehalten werden: „Es gibt Millionen Syrer, die in der ganzen Welt zerstreut sind, und Millionen Syrer, die keine Ausweise haben. Wir wissen ja noch nicht mal, wie viele Einwohner Syrien derzeit genau hat.“ Dafür müsste es einen Zensus geben. Den zu organisieren, sei enorm aufwendig und koste Zeit.
Seit 20 Jahren arbeitet Laila als Journalist, begleitete ausländische Mediengruppen wie BBC Arabisch und die Deutsche Welle während der „Revolution“, wie er den Bürgerkrieg nennt. Er war Sprecher der Islamischen Front, einer der größten Rebellengruppen.
Jetzt ist der 38-Jährige Chef der staatlichen Medienkommission in Aleppo und hat die Aufgabe, die Medienlandschaft neu zu organisieren. Sein Büro ist im Gebäude des ehemaligen staatlichen Radiosenders Sada, dessen Gründer in die Vereinigten Arabischen Emirate abgetaucht sei. „Das alte Regime hat die Medien komplett kontrolliert, aber wir wollen das nicht“, sagt Laila. Wer ein Medium aufbauen möchte, ob Radio, TV oder Zeitung, solle zu ihm kommen und einen Antrag stellen.
Die Wahlen am Sonntag sollen ein erster Schritt in eine neue Ära sein, nach 13 Jahren Krieg und 54 Jahren Diktatur. 32 Mitglieder des 210 Personen umfassenden Legislativrats werden in Aleppo gewählt, von Wahlmännern und Wahlfrauen, die durch die Stadtverwaltung und dem Gouverneur bestimmt wurden: Vertreter der Zivilgesellschaft, der jeweiligen Volksgruppen, aus Politik und Gesellschaft.
Landesweit treten 1578 Kandidaten an, 14 Prozent davon sind Frauen. Unruheprovinzen wie Suweida und Latakia sind ausgeschlossen. Und auch der kurdische Nordosten wird nicht an der Wahl teilnehmen.
Laila selbst hat seine Kandidatur abgegeben und hofft nun, gewählt zu werden. Die Stadt werde eine Halle zur Verfügung stellen, wo alle zusammenkommen – Wahlmänner und Wahlfrauen, Kandidaten und Kandidatinnen. Der Öffentlichkeit zugänglich sei die Abstimmung in Aleppo nicht, Public Screening werde es aber geben und Journalisten seien zugelassen. Wie es in den anderen Provinzen gehandhabt wird, weiß der Kandidat in Aleppo nicht.
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