Mehrere Tage lang wurden beunruhigende Vorfälle rund um ukrainische Atomanlagen gemeldet, dann nahm Wladimir Putin Stellung: „Sie haben immer noch funktionierende Kernkraftwerke auf ihrer Seite. Was hindert uns also daran, entsprechend zu reagieren?“ Zuvor hatte Russlands Präsident der Ukraine vorgeworfen, das russisch kontrollierte ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja sowie Infrastruktur rund um das Werk gezielt zu beschießen. Und so kann Putins Aussage durchaus als direkte Drohung verstanden werden.
Seit mehr als einer Woche ist das AKW Saporischschja ohne externe Stromversorgung. Eine Leitung war beschädigt worden. Kurz darauf folgte ein russischer Angriff auf Energieinfrastruktur in der ukrainischen Stadt Slawutytsch, nordöstlich von Kiew. Dadurch fiel auch die Stromversorgung für die Reaktorruine Tschernobyl aus.
Sowohl Tschernobyl als auch das Kraftwerk Saporischschja müssen gekühlt werden. Gibt es keine externe Stromversorgung, fallen die Pumpen für das Kühlwasser aus. Es droht Überhitzung und in Folge die Freisetzung nuklearer Isotope.
Hinzu kommt laut ukrainischen Angaben, dass russische Drohnen auch direkt über oder in naher Umgebung anderer Kernkraftwerke gesichtet wurden: Riwne, Chmelnyzkyj und über der Südukraine. In einem Bericht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) ist von „verstärkten militärischen Aktivitäten“ rund um diese Anlagen die Rede.
„Russland schafft absichtlich das Risiko radiologischer Zwischenfälle“, heißt es in einer Erklärung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Die Zerstörung der Energieinfrastruktur in Slawutytsch bezeichnete er als „gezielten Angriff“. Mehr als 20 Drohnen seien an dem Schlag beteiligt gewesen. Der Angriff sei gezielt als Welle durchgeführt worden, „um die Verteidigung der Anlage zu erschweren“. Den Russen müsse dabei klar gewesen sein, „dass ein Angriff auf Anlagen in Slawutytsch solche Folgen für Tschernobyl haben würde“, so Selenskyj.
Es war nicht der erste Angriff auf das stillgelegte Kraftwerk und seine Infrastruktur. Bei einer Attacke mit einer Drohne im Februar war der sogenannte Sarkophag, der den Unfallreaktor umschließt, getroffen worden. Ein Zufall oder eine Abweichung der Drohne von ihrer eigentlichen Flugbahn sind unwahrscheinlich – rund um die Kraftwerksruine ist nichts als Wald.
Nach dem jüngsten Angriff auf Slawutytsch ist die Lage in Tschernobyl unter Kontrolle, die Stromversorgung konnte in kurzer Zeit wieder hergestellt. In Saporischschja hingegen ist die Situation alarmierend. Das Kernkraftwerk liegt am Fluss Dnipro, direkt an der Front. Ursprünglich wurde für die Kühlung Wasser vom Kachowka-Staudamm abgezweigt. Seit der Sprengung des Damms im Juni 2023 durch Russland wird bei der Kühlung improvisiert.
Das Kraftwerk wird derzeit heruntergefahren, es muss also weiter gekühlt werden. Das größte Problem ist derzeit die Stromversorgung. Bereits im Frühjahr wurde eine Leitung an mehreren Stellen gekappt – sowohl auf ukrainisch als auch auf russisch kontrolliertem Gebiet. Eine Reparatur war aufgrund von Kämpfen bisher nicht möglich. Angebote der Ukraine, die Verbindung wieder instand zu setzen, wurden von der russischen Seite ausgeschlagen.
Bei einer Explosion am 23. September wurde dann das letzte zum Kraftwerk führende externen Kabel beschädigt. Russland spricht in diesem Zusammenhang von Beschädigungen in Folge von „Beschuss“. Daran bestehen allerdings erhebliche Zweifel – schon, weil an besagtem Tag keine Kampfhandlungen in diesem Abschnitt gemeldet wurden. Das bestätigt auch die IAEA.
Kiew geht folglich von Sabotage aus. Das ergebe sich aus der Auswertung von Satellitenbildern, wie ein ukrainischer Diplomat sagt, sowie den Angaben der IAEA-Beobachter. Fakt ist: Noch nie war das Kraftwerk seit der russischen Übernahme am 3. März 2022 so lange von der externen Stromversorgung abgeschnitten.
Der Strom für die Kühlung wird deshalb mit Generatoren produziert, die mit Diesel betrieben werden. Die IAEA nennt diese Art der Energieversorgung „die letzte Verteidigungslinie“, um eine Katastrophe abzuwehren. 17 Generatoren sind vorhanden, acht davon müssen durchgehend laufen, um den Strombedarf zu decken. Ein Betrieb im Rotationsprinzip soll helfen, die Generatoren zu schonen.
Aber das Problem ist: Sie sind nicht auf Dauerbetrieb ausgelegt. Zudem schätzte die IAEA am 30. September, dass die Dieselvorräte nur noch für zehn Tage reichen.
Die IAEA-Beobachter haben keinen Zugang zu der Stelle, an der die Leitung am 23. September beschädigt worden war. In der Beurteilung von Kampfhandlungen oder Explosionen können sie sich nur auf ihre akustische Wahrnehmung verlassen – etwa die Abfolge und Entfernungsschätzung von ausgehendem Feuer und dem Einschlag von Artilleriegranaten.
Russland gewährt IAEA-Beobachtern temporär Zugang zu dem Kraftwerk, aber nicht zu allen Bereichen. Der ukrainische Diplomat spricht von „systematischen Restriktionen durch russische Stellen für die Beobachter“.
AKW-Mitarbeiter verhört und gefoltert
Die ukrainische NGO Truth Hounds bestätigt das. Die Organisation hat vor allem Menschenrechtsverletzungen in dem Kraftwerk sowie der nahen Stadt Enerhodar untersucht. Eine Befragung von Zeugen habe ergeben, dass ein Keller unter einem Reaktorblock von den russischen Besatzern zeitweise als Gefängnis für ukrainische Mitarbeiter des Kraftwerks genutzt wurde.
Auch die genauen Räumlichkeiten in Verwaltungsgebäuden, in denen ukrainische Mitarbeiter des Werks festgehalten, verhört und auch gefoltert wurden, konnten exakt lokalisiert werden. Verifiziert ist laut Truth Hounds zudem, dass die russische Armee das Werk als Basis und das Werksgelände als Artilleriestellung und Munitionslager benutzt. Nach Zeugenaussagen ist das umgebende Gelände schwer vermint.
Wie Truth Hounds weiter berichtet, wurden Mitarbeiter des Atomkraftwerks und ihre Familien schikaniert und verhört. Alle wurden demnach gezwungen, einen Arbeitsvertrag mit russischen Stellen zu unterzeichnen sowie den russischen Pass anzunehmen.
Dokumentiert ist laut der NGO die Verschleppung und Folter von zumindest 226 Zivilisten in der Stadt Enerhodar, viele davon Werksmitarbeiter oder deren Angehörige. Mindestens sechs Mitarbeiter des Werks wurden laut Truth Hounds zu Tode gefoltert. Einer wurde laut Zeugen offen auf dem Werksgelände erschossen.
Mittlerweile untersteht das Werk der staatlichen russischen Atomenergiegesellschaft Rosatom. Die will das Kraftwerk angeblich wieder ans Netz bringen. Das Problem: Mit dem Kachowka-Staudamm hat sich Russland das Wasserreservoir für die Kühlung selbst weggesprengt. Für eine Wiederaufnahme des Betriebs gibt es keine Zertifizierung.
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