Der große Erfolg der russischen Angriffe ist in den vergangenen Monaten ausgeblieben. Dahinter steckt eine durchaus bemerkenswerte Leistung der ukrainischen Armee. Ein Misserfolg war die russische Sommeroffensive dennoch nicht.

Von der russischen Sommeroffensive in der Ukraine hatte sich das Regime in Moskau viel versprochen. Im besten Fall hätte sie zu einem bedeutenden Vordringen der russischen Armee im Norden der ukrainischen Region Donezk in Richtung der größeren Städte Slowjansk und Kramatorsk führen sollen. Ein wirklich großer Erfolg wurde allerdings nicht daraus. "Wenn wir sehen, dass es den russischen Gruppierungen nicht gelungen ist, ihre Vorstöße in einen Durchbruch umzusetzen, dann hat die russische Offensive nicht das vom Kreml erwartete Ergebnis gebracht", sagt Mykola Beleskow, Militäranalytiker vom Nationalen Institut für strategische Studien in Kiew.

Viele Menschen außerhalb und auch in der Ukraine hätten gar keine Vorstellung, welche Anstrengungen die ukrainischen Streitkräfte dafür unternehmen mussten, sagt Beleskow. Gleichzeitig sei es der Ukraine aus unterschiedlichen Gründen nicht gelungen, die Front ausreichend zu stabilisieren. Zudem verfüge Russland über die Ressourcen, um die aktuelle Intensität der Kämpfe aufrechtzuerhalten.

Den Russen gehe es nicht vorrangig darum, an einer bestimmten Front Erfolge zu erzielen, so Beleskow: "Die Bemühungen Russlands zielen weiterhin darauf ab, die Widerstandsfähigkeit der Ukraine insgesamt zu untergraben. Dazu soll sowohl die Moral im Land geschwächt werden als auch der Willen unserer Partner, der Ukraine bei ihrer Selbstverteidigung zu helfen."

Kein klassischer Stellungskrieg

In seiner Kolumne für das renommierte Online-Medium "Dzerkalo Tyschnja" schreibt der beliebte ehemalige Befehlshaber der ukrainischen Armee und heutige Botschafter in London, Walerij Saluschnyj, Russland und die Ukraine steckten in einer "positionellen Sackgasse", die an den Ersten Weltkrieg erinnere. Gerade im Frontabschnitt Donezk hätten die Kämpfe schon im Oktober 2022 einen Positionscharakter angenommen. Was heute an der Front passiere, der sogenannte "Stupor", unterscheide sich jedoch vom klassischen Stellungskrieg.

"Trotz der generellen Stabilität der Front kommt es zu langsamen, manchmal lokalen, manchmal breiteren Vormärschen, die gewissermaßen ein schleichendes Format annehmen, gepaart mit unverhältnismäßigen Verlusten der Angriffsseite", schreibt Saluschnyj. Im Gegensatz zu klassischen Operationen zur Vernichtung des Feindes würden die Russen Taktiken einsetzen, die darauf basieren, ukrainische Einheiten aus besetzten Positionen zu verdrängen. "Mit Ausnahme der Kämpfe um Bachmut haben unsere Kräfte ihre Kampffähigkeit nie verloren", sagt der ranghöchste ukrainische General, der sich damit auch auf die aktuellen Kämpfe um logistische Schlüsselstädte wie Pokrowsk in der Region Donezk und Kupjansk im Bezirk Charkiw bezieht.

Die Situation in Pokrowsk und Kupjansk

Bei Pokrowsk versucht Russland weiterhin, ukrainische Nachschublinien zu unterbrechen, um die Stadt einzukesseln. Die Stadt bleibt weiterhin unter ukrainischer Kontrolle, doch die Flanken sind äußerst gefährdet. Eine wichtige Rolle spielt dabei die naheliegende Stadt Dobropillja, wo die Russen zunächst eine Lücke in der ukrainischen Verteidigung fanden, sich dann jedoch nach ukrainischen Konterangriffen aus vielen Stellungen zurückziehen mussten. Eine Einnahme von Dobropillja würde die Logistik um Pokrowsk für die Ukraine bedeutend erschweren. Außerdem liegt zwischen Dobropillja und Kramatorsk eine der wichtigsten Straßen im ukrainisch kontrollierten Rest des Donbass, die bereits seit einiger Zeit unter russischem Drohnen-Beschuss steht.

Bei Kupjansk in der Region Charkiw wiederum gibt es immer mehr Grauzonen, von denen nicht klar ist, wer sie kontrolliert - und besorgniserregend ist die wachsende Präsenz der Russen in der Region Dnipropetrowsk, auch wenn sie vorerst mit weiteren Angriffsplänen in Donezk zusammenhängt.

Wie Ex-Befehlshaber Saluschnyj erklärt, ist zwar die Verteidigung durch Drohnen für die Ukrainer einfacher geworden. Weil die Russen aber über eine Menge von Drohnen verfügen, sei selbst in der Verteidigung eine große Konzentration von Menschen unmöglich. Deswegen müsse sich die ukrainische Armee an einigen Stellungen langsam zurückziehen. "Während Russland unsere Stellungen mit immer mehr Menschen angreift und uns ebenfalls eine solche Taktik aufzuzwingen versucht, müssen wir einen anderen Weg gehen", plädiert Saluschnyj. Dieser Weg sei, ein wirksames technologisches Mittel gegen die tödliche Kraft der neuen russischen Waffen zu finden.

Die Stabilisierung der Front bleibt das Hauptziel

"Russland konzentriert seine Bemühungen aktuell überwiegend auf eine Frontrichtung", kommentiert der ukrainische Militärexperte Serhij Hrabskyj, Oberst in der Reserve. Die Intensität der Kämpfe auf den beiden derzeit heißesten Punkten der Front, Donezk und Kupjansk, könne kaum miteinander verglichen werden - im Donezk seien die Kämpfe intensiver. Viele Angriffe führe Russland ohne wirkliche Technikunterstützung durch, mit Kräften bis hin zu einer motorisierten Schützenabteilung. Was allerdings keinesfalls bedeutet, dass diese Angriffe für die Ukraine ungefährlich und leicht abzuwehren sind.

Deshalb wäre es gerade aus ukrainischer Sicht grundfalsch, von einem Misserfolg der russischen Sommeroffensive zu sprechen. Beleskow erinnert daran, dass es sowohl im Oktober 2023 als auch im Oktober 2024 deutliche Vorstöße der Russen gab. Weil das Ende des russisch-ukrainischen Krieges nicht in Sicht ist und Putin weiterhin auf einen langen Zermürbungskrieg setzt, bleibt die Hauptaufgabe der ukrainischen Armee, die Front zu stabilisieren. In diesem Sommer sowie im September haben es die Ukrainer geschafft, keine größeren Durchbrüche der Russen zuzulassen. Angesichts der Umstände war das eine bemerkenswerte Leistung. Von einer echten Stabilisierung der Front ist die Ukraine jedoch unverändert weit entfernt.

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