Die Ausladung des israelischen Dirigenten durch ein belgisches Festival sei eine "Schande für Europa", heißt es. Ich musste mich schon ein wenig zusammenreißen, um so richtig schockiert zu sein. Israelbezogener Antisemitismus ist inzwischen ein Normalfall.
Im Sommerurlaub habe ich eine Russin getroffen. Wir waren Teil einer Reisegruppe, die wegen ausgefallener Flüge auf einer kapverdischen Insel festhing. Wir haben einen Kaffee getrunken und ich habe sie nicht nach Wladimir Putin gefragt.
In Hamburg habe ich einen Amerikaner getroffen und mit ihm über Fotografie gesprochen, nicht über Donald Trump. Zurück in Berlin habe ich mir einen Döner bestellt. Obwohl ich hörte, dass der Mann am Spieß offenkundig türkisch spricht, habe ich ihn nicht um eine Stellungnahme zu Recep Tayyip Erdoğan gebeten.
Ich glaube nicht, dass ich diese Situationen mit übermäßig bewundernswerter Toleranz und Langmut bewältigt habe, sondern eher so, wie eigentlich jeder brave, angemessen liberal-aufgeklärte Demokrat. Wir haben ja alle unsere Regierungen, davon lassen wir uns doch wohl nicht das Miteinander verhageln, oder?
Ganz besondere Regeln
Aber gilt das auch, wenn ich einen Israeli treffe oder in einem israelischen Restaurant Shakshuka bestelle? Nein, das gilt hier nicht, denn für Israel und seine Einwohner gelten immer ganz besondere Regeln.
Wer daran Zweifel hat, möge sich über die Situation israelischer Restaurants in Berlin informieren. Nach dem 7. Oktober haben mehrere geschlossen, wegen Anfeindungen im Netz, Schmierereien, Drohanrufen.
Insofern musste ich mich ein bisschen zusammenreißen, um im Fall Lahav Shani angemessen aufzuhorchen: Ein belgisches Musikfestival in Gent hat den unzweifelhaft talentierten Dirigenten der Münchner Philharmoniker ausgeladen.
"Selektion" und "Schande für Europa"
Die Festivalleitung hat dabei sogar die Perfidie besessen, darauf hinzuweisen, Shani habe sich zwar in der Vergangenheit "einige Male" für Frieden und Versöhnung ausgesprochen. Was sie nicht erwähnen ist, dass er auch das israelisch-palästinensische West-Eastern-Divan-Orchester dirigerte. Man habe aber, heißt es in der Erklärung, nicht ausreichend Klarheit über seine Einstellung zum "genozidalen Regime in Tel Aviv".
Das sorgt nun für helle Aufregung. Die deutsche Botschaft stoppt die Zusammenarbeit mit dem belgischen Festival. Der israelische Botschafter spricht von "Selektion". Der Kulturstaatsminister und frühere ntv-Kolumnist Wolfram Weimer spricht von Antisemitismus und "Schande für Europa".
Warum eigentlich? So richtig neu ist das nun wirklich nicht. Der Sport kennt zahllose Beispiele, in denen israelische Athleten ausgeladen, von Wettbewerbern ignoriert oder umgangen wurden, weil sie Israelis sind. Judenfeindliche Ausfälle in der Kulturszene gehören inzwischen dazu wie das Glas Prosecco zur Galerieeröffnung. Am Freitag etwa gesellte sich ein taufrisches Beispiel dazu: Irland will nicht am ESC teilnehmen, wenn Israel weiter dabei ist.
Aus der antisemitischen Einlullung befreien
Man muss sich also erst einmal aus der antisemitischen Einlullung befreien, um zu realisieren, was in Europa Alltag geworden ist: Israelis werden ausgegrenzt, weil Israel eben kein normaler Staat sei und seine Bewohner auch nicht. Es gelten Sonderregeln, die eine Sonderbehandlung legitimieren.
Apropos Sonderbehandlung: Die Nazis hatten damals für viele Dinge besonders grässliche Worte und für die vom belgischen Festival befürchtete Gefahr hatten sie auch eines: die "Verjudung". Es meinte einen wie auch immer gearteten negativen Einfluss "der" Juden auf Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft und Politik.
Es war die Fantasie, dass Juden quasi von einer Art gefährlicher Strahlung umgeben seien, eine Gefahr für andere Menschen darstellten - und es ist wohl allgemein bekannt, wo das endete: mit dem Holocaust und dem Staat Israel, dem Safe Space für Leute, die wirklich einen brauchen.
Keine rationale Erklärung
Wenn heute Kulturmenschen unter Berufung auf "Palästina" Israelis ausschließen, weil ihre bloße Anwesenheit eine Gefahr darstelle, dann ist Europa wieder dabei, sich vor "Verjudung" zu hüten. Man sagt natürlich nicht "verjuden", man sagt: Wir können uns die schöne Musik nicht israelisieren lassen.
Für diesen inzwischen völlig üblichen Generalverdacht gegen Israelis gibt es keine rationale Erklärung. Eigentlich müsste doch offensichtlich sein, dass die Bürger dort ein mindestens so schlechtes Verhältnis zu ihrer Regierung haben wie Amerikaner zu ihrer. Wie tief gespalten das Land gerade in Sachen Gaza-Krieg ist, kann man dort schließlich ständig auf der Straße beobachten. Auch in Berlin protestieren Israelis auf der Straße mit palästinensischen Aktivisten gegen die Netanjahu-Regierung.
Die einzige rationale Tangente wäre: Israelis müssen ihren Staat lieben, denn es ist für sie der einzige halbwegs sichere Ort der Welt. Aber wenn ich so argumentiere, habe ich kurz vergessen, was das Wesen des Antisemitismus’ ist: Er ist zutiefst irrational. Es ist eine globale, tausendjährige Wahnvorstellung, der mit Argumenten nicht beizukommen ist. Und jetzt schon einmal gar nicht.
Frischzellenkur für alte Geisteskrankheit
Der 7. Oktober ist eine Frischzellenkur für diese alte Geisteskrankheit. Sie hat eine neue Heimat gefunden im gerade in der Kulturszene verbreiteten postkolonialisitisch-woken Gedankenwelt, in der sich unterdrückte Palästinenser gegen weiße, jüdische Kolonialisten stemmen (ein Bild übrigens, das nur so lange funktioniert, wie man noch nie in Israel war).
Dazu gehört auch der Gedanke, dass Austausch über die Gruppengrenzen der eigenen Identität nicht mehr möglich ist. Weiße können Schwarze nicht verstehen, Männer nicht Frauen und Israelis keine Palästinenser. Auf diesem linken politischen Morast gedeiht eine moralisch vergoldete Unerbittlichkeit gegenüber dem politischen Gegner: Israel. Künstler, die ein besonders leichtes Gefäß für weltpolitische Ambitionen suchen, landen da schnell bei der "palästinensischen Sache".
Ist der Fall Gent eine "Schande für Europa"? Ja, klar. Aber nun wirklich keine neue.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke