Marine Le Pen hat Aufwind. Bereits vor dem Sturz von Regierungschef François Bayrou forderte die französische Rechtspopulistin Neuwahlen des Parlaments. Laut Umfragen ginge ihre Partei Rassemblement National (RN) als eine der wenigen siegreich aus diesen Wahlen hervor. Ob eine Mehrheit im Parlament möglich wäre, hinge davon ab, ob die „republikanische Brandmauer“, der Zusammenschluss gegen den RN, ein erneutes Mal halten würde.

Das politische Klima nach einem Jahr Blockade in der Nationalversammlung lässt allerdings vermuten, dass die Wähler genug von Absprachen gegen den RN und von strategischen Rückzügen der Gegenkandidaten haben. Selbst Ex-Präsident Nicolas Sarkozy sprach jüngst im Interview mit der französischen Zeitung „Le Figaro“ eine Entwarnung in Sachen RN aus.

„In meinen Augen sind sie Teil des republikanischen Bogens“, urteilte der Konservative, der Parlamentswahlen in den nächsten Wochen für unvermeidlich hält. Ein Satz, der viele seiner Parteikollegen kalt erwischt haben dürfte. Doch Aufwind allein reicht nicht. Das politische Überleben von Marine Le Pen hängt seit ihrer Verurteilung im März an einem dünnen Faden.

Am Montag, zeitgleich mit dem Sturz des Regierungschefs, fiel eine für die französische Rechtspopulistin wichtige Entscheidung. Der Termin des Berufungsprozesses wegen Veruntreuung von EU-Geldern steht fest: Von Mitte Januar bis Mitte Februar nächsten Jahres müssen sich Le Pen, ihr ehemaliger Lebensgefährte Louis Alliot, Bürgermeister von Perpignan, und elf weitere Angeklagte des Front National (heute Rassemblement National) vor dem Berufungsgericht verantworten.

Im März dieses Jahres war die 57-jährige Politikerin zu einer Haftstrafe von vier Jahren, davon zwei mit elektronischer Fußfessel, und einer Geldstrafe von 100.000 Euro verurteilt worden. Politisch brisant und deshalb umstritten war das Urteil, weil das Gericht angesichts der mangelnden Einsicht der Angeklagten die Strafe mit dem Zusatz versehen hatte, dass sie fünf Jahre nicht bei Wahlen antreten darf, und das mit „sofortiger Wirkung“.

Seither versucht die ausgebildete Juristin, mögliche Gesetzeslücken zu finden, um das Urteil anzufechten. Mit einem Antrag beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist sie in diesem Sommer gescheitert. Beim französischen Verfassungsrat wurden zwei Anträge auf Prüfung der Verfassungskonformität des Urteils gestellt. Beim ersten ging es um die Freiheit der Kandidatur, beim zweiten um die Freiheit der Wähler.

Ersterer wurde abgewiesen. Auch beim zweiten, den nicht Le Pen persönlich, sondern einer ihrer Abgeordneten gestellt hatte, wurde das Urteil „grundsätzlich als verfassungsgemäß“ bezeichnet. Aber die Verfassungsrichter haben eine „Interpretationsreserve“ eingefügt: Die Strafrichter müssen künftig prüfen, ob die sofortige Vollstreckung eines Urteils die Freiheit der Wähler unverhältnismäßig einschränkt.

Dass der Berufungsprozess so schnell aufgerollt wird, wirkt wie ein ungewöhnliches Entgegenkommen der auch in Frankreich notorisch überlasteten Gerichte. Normalerweise hätte Le Pen auf diesen Termin zwei bis drei Jahre warten müssen. Die Urteilsverkündigung erfolgt drei Monate später und darf somit vor dem Sommer erwartet werden.

Sollte Le Pen freigesprochen werden, könnte sie bei den Präsidentschaftswahlen 2027 antreten. Sollte sie erneut verurteilt werden, was angesichts der Beweislage wahrscheinlich ist, könnte sie in einem letzten Schritt vor den französischen Kassationshof ziehen, der sein Urteil ebenfalls noch rechtzeitig vor den Wahlen fällen würde.

Damit bliebe Le Pen und ihrer Partei im Fall einer endgültigen Verurteilung genug Zeit für einen Plan B, für den Aufbau des jungen Parteichefs Jordan Bardella als Präsidentschaftskandidaten. Umfragen zeigen, dass er nicht weniger glaubwürdig als seine politische Ziehmutter erscheint. Die Tatsache, dass er nicht den Namen Le Pen trägt, könnte sich sogar als Vorteil erweisen. Bardella ist deutlich wirtschaftsliberaler und könnte damit Wähler des rechts-bürgerlichen Lagers gewinnen, die Le Pens Wirtschaftspolitik für zu links halten.

RN spricht von „Einmischung der Richter“

Doch trotz der außergewöhnlichen Beschleunigung des Gerichtskalenders angesichts eines ebenso außergewöhnlichen Falles ist man unzufrieden beim RN. Grund sind die französischen Kommunalwahlen, die Mitte März anstehen. Prozess und Wahlkampf werden sich überschneiden, was die Vertreter des RN als „Einmischung der Richter“ bezeichnen. Von einer „politischen Entscheidung“ der „roten Richter“ ist die Rede.

„Wir haben verinnerlicht, dass der juristische Kampf Teil des politischen ist“, sagte Parteichef Bardella am Dienstagmorgen im Privatradio RTL und ergänzte: „Das Gerichtssystem geht hartnäckig gegen bestimmte Bewegungen vor. Der Zufall will es, dass diese Bewegung überraschenderweise immer die unsere ist.“ Parteivize Jean-Philippe Tanguy formulierte es blumiger und qualifizierte die Terminvergabe als „Rache des Systems“, eingefädelt von einem „Quartett von Staatsanwälten und tyrannischen Richtern, die den Rechtsstaat hinrichten“.

Le Pen wollte einen „schnellen Prozess“ und forderte die Justiz auf, „sich zu sputen“. Jetzt geht es ihr zu schnell. „Erst wollten sie beschleunigen, jetzt beschweren sie sich. Ich kann das nicht nachvollziehen“, reagierte der Anwalt des EU-Parlaments, Patrick Maisonneuve, auf die Unterstellungen der RN-Politiker.

Mehr als vier Millionen Euro Schaden

Der Schaden des Brüssler Parlaments durch das von Vater Jean-Marie Le Pen eingeführte und von seiner Tochter weitergeführte System von Scheinbeschäftigungen wird mehr als vier Millionen Euro beziffert. Nur die Hälfte der 24 Angeklagten, die im März verurteilt wurden, ist in Berufung gegangen. Le Pen beteuert bis heute ihre Unschuld. Ob sie mit dieser Strategie vor dem Berufungsgericht durchkommt, ist fraglich.

Während des Prozesses war die Beweislage eindeutig. Zum Vorschein kam ein seit Jahrzehnten gut funktionierendes System, bei dem Parteimitarbeiter in Paris, die zum Teil nie einen Fuß nach Brüssel setzen, mit EU-Geldern bezahlt wurden. Die Gehälter von Parteifunktionären, Pressesprechern, ja sogar Personenschützern wurden so finanziert. Der Betrug wurde 2015 öffentlich gemacht.

Die belastenden Dokumente kamen allesamt aus den Archiven des FN, wie die Partei damals hieß. In Kurznachrichten oder Mails wurde die genaue Gebrauchsanweisung für den mutmaßlichen Betrug gegeben. Parteichef Bardella, damals als junger Mitarbeiter eines EU-Abgeordneten geführt, kaufte sich nachweislich einen Kalender eines längst vergangenen Jahres, in den er im Nachhinein seine vermeintliche Reise nach Straßburg mit schlampiger Schrift eintrug.

Ein EU-Abgeordneter gab in einer E-Mail an den Schatzmeister der Partei zu bedenken, dass er Verträge für Scheinarbeitsplätze unterzeichnen solle, wofür er strafrechtlich belangt werden könnte. Er warnte davor, dass sich die Partei „Ärger einhandeln“ werde. Die Antwort des Schatzmeisters lautete: „Ich glaube, Marine weiß das alles ganz genau.“

Martina Meister berichtet im Auftrag von WELT seit 2015 als freie Korrespondentin in Paris über die französische Politik.

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