Vorigen Sommer – zum Ende des Schuljahres 2023/24 – verließ eine Lehrerin für Mathematik und Musik ihre Schule in Bielefeld. Sie passe nicht dorthin, gab man ihr öfter zu verstehen, sie sei „zu deutsch“ meinte eine Schülerin mit muslimischem Hintergrund. Die Lehrerin ging allerdings nicht sprachlos, aber auch nicht bitter. Wir dokumentieren ihre Abschiedsrede nach elf Jahren, weil sie einen seltenen Einblick in die heutige Situation an einer deutschen Schule bietet – und weil diese Rede nicht vorwurfsvoll ausfällt, sondern eher nachdenklich. Dokumentiert von Wolfgang Büscher

Die Abschiedsrede der Lehrerin

In Gesprächen mit der Schulleitung wurde mir zu verstehen gegeben, ich würde nicht an diese Schule passen. Und manche Kollegen, die mitbekamen, dass ich nun diese Schule verlasse, entgegneten, dass es vielleicht nicht gepasst habe. Im Musikunterricht sagte einmal eine Schülerin zu mir etwas übellaunig: „Sie sind sooo deutsch!“ Erstaunt über diesen Einwurf, antwortete ich: „Was soll ich denn sonst sein???“

So möchte ich einen Moment darüber nachsinnen, was denn nicht gepasst haben könnte. Gebe ich im Internet „Typisch deutsch“ ein, werde ich auf deutsche Tugenden geleitet, die da sein sollen: Beständigkeit und Zuverlässigkeit, Treue und Ehrlichkeit, Mut und Tapferkeit, Gehorsam und Selbstdisziplin, Fleiß und Qualität. Nun könnte man diese auch als christliche, preußische oder obrigkeitsstaatliche Werte interpretieren. Wenn man mich fragen würde, ob dieser Wertekanon als Erziehungsziel taugt, könnte ich dem wohl zustimmen, auch wenn die geballte Aufzählung mir durchaus Lust auf ein Kontra macht.

Wenn ich darüber nachdenke, warum ich Lehrerin geworden bin, würde ich als erste Begründung nennen, dass ich meine Fächer liebe und mir wünsche, diese Begeisterung an die Schüler weiterzugeben. Dabei möchte ich über die fachspezifischen Inhalte hinaus wertvolles Allgemeinwissen und den kulturellen Hintergrund vermitteln.

Fangen wir mit Mathematik an: Es war mir ein Anliegen, den Schülerinnen und Schülern deutlich zu machen, dass deren eigentliche Schönheit nicht in eingepaukten Rechenprozessen liegt, sondern in einem Aufbau von Definitionen, Axiomen und Sätzen, die es ermöglichen, wahre und unwahre Aussagen zu unterscheiden. Diese Klarheit gibt es sonst nirgendwo. Wo begegnet uns sonst nachweisbare Wahrheit?

Es hat einen unschätzbaren pädagogischen Wert, zu bemerken, dass diese Wahrheiten immer gelten, egal ob morgens, abends, nachts, nach einer Party, ob man sich müde oder munter fühlt, ob man Lust oder keinen Bock hat. Es gilt immer und ewig. Das Argument ist getrennt von meinem Gefühl und gültig. Diese Unterscheidung fällt nicht nur in der Mathematik vielen Menschen oft schwer.

In Musik kommt man nicht um das Religiöse herum: Die Notenschrift wurde von Mönchen erfunden, und so ziemlich alle großen barocken und klassischen Komponisten haben auch religiöse Werke komponiert. Mir lag viel daran, den Schülern zu erklären, welche kulturelle Tradition unser Land hat, warum wir Weihnachts- und Osterferien haben und wie sich unser Jahr nach christlichen Feiertagen gestaltet.

Hin und wieder gab es erstaunliche Momente, so zuletzt, als die Kinder einer 6. Klasse den Kanon „Bruder Jakob“ nicht mitsingen wollten, weil darin die Zeile vorkommt: „… hörst Du nicht die Glocken“. Das Argument der Schüler lautete: Glocken, und Jakob ist ein verschlafener Mönch – also christlich, folglich verboten! „Ok, aber wer verbietet es?“, fragte ich die Klasse. Antwort: „Google!“

Seitdem bemerkte ich, wie viel weniger ich versuchte, mit den Schülern zu singen, weil ich diesen aufreibenden Konflikt um die Frage, ob etwas haram ist oder nicht, scheute. Denn Singen ist im streng ausgelegten Islam haram, also Sünde.

Seit dem 7. Oktober 2023 wurde der Spielraum für mich deutlich enger. So wählte ich als gemeinschaftsstiftendes Thema die Laterne: Laternenlieder, Martinssingen usw. Auch hier gab es Protest, einige Schüler zerknüllten und zerrissen das Arbeitsblatt mit der Begründung, das sei christlich.

Wenige Tage später war eine gesamte Fensterfront geschmückt mit Monden, Sternen und „Happy Ramadan!“ Anscheinend war das problemlos möglich. Ich suchte das Gespräch mit den anderen Musikkollegen, und wir konnten bestätigen, dass diese Entwicklung in den letzten Monaten zugenommen hat.

Im Treppenhaus ist groß zu lesen: „Eine Schule für Alle!“ Dieser Satz macht deutlich, dass alle Kinder in dieser Schule willkommen sind – und das ist gut so! Was aber heißt das für den Bildungsauftrag? Sind, wenn alle Kinder willkommen sind, auch alle Bildungsinhalte willkommen oder nicht? Ich nehme eher wahr, dass wir unsere Inhalte danach ausrichten, wie wir möglichst ohne Konflikte und Reibungspunkte durch den Alltag kommen. Ich habe es öfter so erlebt, weil man mich vorwurfsvoll fragte, warum ich so etwas überhaupt machen würde, gemäß dem Motto: „Lass das doch bleiben! Das gibt nur Ärger!“

Fazit: Ihr habt recht, ich passte nicht hierhin, aber es war hoffentlich nicht umsonst. Danke für alle Impulse, die ich durch Euch erhalten habe. Alles Gute und Adé!

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