In offenbar großer Zahl verschaffen sich Menschen Aufenthaltstitel mit gefälschten Test-Zertifikaten. Mit nicht vorhandenen Sprach- und Integrationskenntnissen erschleichen sie sich eine Niederlassungserlaubnis oder sogar die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Fälschungen sind oft kaum zu erkennen, Sicherheitsbehörden schlagen Alarm. Im Interview mit ntv.de beschreibt ein Polizist, wie er den Betrug im Polizeialltag erlebt und welche Dimensionen er hat. Der Beamte hat mehr als 10 Jahre Berufserfahrung und verrichtet seinen Dienst in einer großen westdeutschen Stadt. Zu seinem Schutz spricht er mit uns anonym.

ntv.de: Ich habe Ihnen gerade ein gefälschtes, aber täuschend echt aussehendes B1- und "Leben in Deutschland "-Zertifikat überreicht, wir haben es von einem Tiktok-Händler gekauft. Haben Sie so etwas schon mal gesehen?

Polizist: Ja, mehrfach. Überwiegend bei Fahrzeugkontrollen. Wir nennen das im Polizeijargon den sogenannten Zufallsfund in der Verkehrskontrolle. Wenn wir beispielsweise im Kofferraum nach dem Verbandskasten oder dem Warndreieck schauen, kam es schon vor, dass im Kofferraum nicht nur ein Zertifikat lag, sondern beispielsweise sechs Zertifikate für sechs verschiedene Personen. In einem Härtefall lagen dort auch schon mal 14 oder mehr Dokumente. Und wenn man dann nachfragt, rückt das Gegenüber erst mal nicht raus mit der Sprache. Aber im weiteren Gesprächsverlauf und mit ein bisschen Ermittlungsarbeit kam heraus, dass diese Zertifikate alle für ein und dieselbe Person waren, welche in Deutschland über mehrere Alias-Namen verfügte und offenbar versuchte, 14 Mal in den Sozialstaat einzuwandern.

Was geht einem Polizisten in so einem Moment durch den Kopf?

Sie müssen sich das so vorstellen: Wir halten eine Person an, bitten sie, uns Führerschein und Fahrzeugpapiere auszuhändigen. Und uns schauen nur zwei aufgerissene Augen an. Wenn man dann noch einmal freundlich, aber bestimmt nachfragt, dass man gerne die Dokumente hätte und das Gegenüber schaut einen immer noch genauso an, dann merkt man, dass er wirklich gar nichts verstanden hat. Die Kommunikation ist nicht nur erschwert, sie ist schlicht nicht vorhanden. Dann probieren wir es auf Englisch: Passport und Driver's Licence. Das versteht eigentlich jeder. Und dann bekommt man ab und an stattdessen ein B1-Sprachzertifikat entgegengestreckt. Das passt ja vorn und hinten nicht. Wir wollten den Ausweis und den Führerschein und bekommen stattdessen, von jemandem, der absolut kein Deutsch spricht, einen Nachweis über die Sprachqualifikation B1. Als Polizist fühlt man sich dann veräppelt. Oder: Man ist fassungslos, dass gerade solch ein wichtiges Dokument so einfach in die Hände von Personen gelangen kann, die dafür überhaupt nicht berechtigt sind. Und jeder weiß, wofür dieses Dokument dient: Es erleichtert die Einbürgerung und ist dafür eine Grundvoraussetzung.

Meine Kollegen und ich sind aber nicht nur fassungslos, wir verlieren auch den Glauben in das System. Und es ist irgendwann eine Systemfrage, denn diese gefälschten Zertifikate sind keine Einzelfälle mehr, es ist inzwischen Standard. Als Polizist fühlt man sich so, als ob einem die Hände gebunden sind, weil man einfach nichts dagegen machen kann.

Wann sind Ihnen das erste Mal diese "Leben in Deutschland"-Zertifikate und B1-Tests aufgefallen?

Aus dem Bauch heraus würde ich sagen, vor rund zwei Jahren. Damals hatte ich den Erstkontakt damit. Was uns auch stutzig gemacht hat in der operativen Praxis, war, dass wenn wir den Leuten die Zertifikate weggenommen haben, weil wir gemerkt haben: Hey, du sprichst kein Wort Deutsch, das ist aber dein Zertifikat, das passt nicht zusammen, dann durften wir uns erstmal Beleidigungen aller Art anhören. Aber wenn dann das Dokument nicht mehr im Besitz der Personen war, dann gab es nur ein müdes Lächeln. Und wenn wir dann gefragt haben: Warum sind Sie so entspannt, wir haben Ihnen ein wichtiges Dokument weggenommen, dann kam der Klassiker als Antwort: Es ist uns egal, wenn ihr uns das wegnehmt. Wir haben es morgen wieder. Als Polizist gehen einem da 1000 Gedanken durch den Kopf. Die Personen gehen ganz offen und locker damit um, sagen, es ist überhaupt kein Problem, nehmt es mir ruhig weg. Morgen habe ich ein neues. Dann hinterfragt man nicht nur seinen Beruf, sondern auch das System dahinter. Denn jeder Polizist, der etwas über den Tellerrand rausschaut, der weiß, dass mit diesem Dokument die Einbürgerung plus der Zugang zu unseren Sozialleistungen in Deutschland verbunden ist. Das ist ein Riesen-Rattenschwanz. Und wenn jetzt einer sagt, er könne sich das Dokument sofort neu besorgen, heißt es, dass er das System jeden Tag im Prinzip aushebeln kann. Man steht machtlos vor solchen Personen. Diese Situation ist nicht mehr zu kontrollieren, sie ist nicht mehr einzufangen.

Aus welchen Ländern kommen Ihrer Erfahrung nach die meisten Käufer dieser Zertifikate? Gibt es da über alle Migrantengruppen hinweg Schwerpunktländer und Regionen?

In meiner operativen Praxis sind mir zwei Länder besonders ins Auge gefallen, und zwar Syrien und Afghanistan. Darüber habe ich auch oft mit anderen Kollegen gesprochen. Ich würde aber sagen: Jeder, der hier eingebürgert werden möchte, kann diese Systeme nutzen.

Woran könnte das aus Ihrer Sicht liegen?

Ein Hauptindikator, den meine Kollegen und ich identifiziert haben, ist, das, wie soll ich sagen, herabgesenkte Bildungsniveau in diesen Herkunftsländern. Aus deutscher Sicht würde man sagen: Sie haben ein verringertes Bildungsniveau. Aber aus polizeilicher Praxis kann ich sagen: Viele Menschen haben nahezu überhaupt kein Bildungsniveau. (In Afghanistan können schätzungsweise rund 70 Prozent der Menschen nicht lesen und schreiben, Anmerkung der Redaktion). Meine Kollegen und ich haben festgestellt, dass es nicht mal daran liegt, dass diese Menschen die Tests nicht machen wollen, sie können sie schlichtweg nicht machen. Ihnen fehlen die grundlegenden Basics für Kommunikation, beispielsweise Lesen und Schreiben. Zwischen Teilen von Afghanistan, Syrien, Kurdistan und Deutschland liegen nicht Welten, da liegen Dimensionen. Wenn man dann das Angebot bekommt, so ein Zertifikat für 1.000 oder 2.000 Euro zu bekommen, ohne den Stress des Lernens und ohne dass man einen Bildungshintergrund nachweisen muss, dann geht es doch besser nicht.

Ich gebe Ihnen jetzt einmal mein Handy mit meinem Tiktok-Feed und den ganzen Nachrichten von "Sprachschulen", die ich innerhalb von einer Woche angeschrieben habe und die mir "echte" B1-Zertifikate und "Leben in Deutschland"-Tests angeboten haben. Was sagen Sie zu dem, was Sie da sehen?

Das ist nicht nur erschreckend. Das ist eine Katastrophe. Das sprengt ehrlich gesagt die Dimensionen dessen, was ich im Kopf hatte. Sie sagen, Sie haben eine Woche gebraucht für diese unzähligen Kontakte? Das spiegelt tatsächlich auch unsere polizeiliche Praxis wider. Wenn ich sehe, wie viele Ihnen innerhalb von einer Woche angeboten haben, Zertifikate auszustellen, dann verstehe ich jetzt auch die Entspannung der Leute, wenn wir ihnen die Zertifikate wegnehmen und ihnen androhen, sie bei der Ausländerbehörde oder dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu melden. Wenn es so viele Anbieter gibt innerhalb von nur einer Woche, dann ist das, was hier passiert, schon nicht mehr unter Kontrolle zu bekommen. Es ist außer Kontrolle. Man muss es hier so konstatieren: Es ist außer Kontrolle.

Was konkret ist außer Kontrolle? Der Einbürgerungsprozess?

Ja. Wenn wir das in der Praxis betrachten: Sie haben hier weit über 100 Kontakte innerhalb einer Woche gesammelt. Aber das Ganze geht ja seit mindestens zwei Jahren, das ist ein dimensionales Problem. Das wächst von Tag zu Tag. Ich frage mich jetzt, was die große Anzahl der Leute, die diese Zertifikate haben möchten, was diese Menschen in Gesamtsumme innerhalb der letzten zwei Jahre generiert haben an Kontakten und Anfragen. Das ist katastrophal, das ist nicht zu kontrollieren.

Was bedeutet das?

Es sind alles Menschen - und auch wenn man bei all ihrer Not versteht, dass sie hier eingebürgert werden wollen: Um den gesellschaftlichen Frieden, um ein friedliches gesellschaftliches Miteinander auch langfristig gewährleisten zu können, gibt es gewisse Spielregeln. Und wenn die Leute einfach meinen, diese zu umgehen und sich das auch noch innerhalb kürzester Zeit mit etwas Bargeld realisieren lässt. Dann ist - man muss es an dieser Stelle leider so deutlich sagen - Hopfen und Malz verloren. Denn warum ist das so? Hätten wir eine Regulatorik, die besagt, dass nur institutionelle Stellen diese Zertifikate ausgeben, dann könnte man diesem ganzen Schwarzmarkthandel Herr werden. Aber wenn man diese Zertifikate über privatisierte Sprachschulen bekommt, dann ist das eine Bankrotterklärung für das Vergabesystem, denn diese sehr angesehenen Zertifikate sind ja die Grundvoraussetzung für die Einbürgerung in unserem Land.

Kann man etwas über das Dunkelfeld sagen?

Die prozentuale Skalierung kann man im Detail nicht angeben. Aus polizeilicher Sicht ist der Handel mit Zertifikaten verglichen mit gängigen Straftaten ein sehr neues Phänomen. Deshalb fällt es uns schwer, das Dunkelfeld auch nur abschätzen zu können. Aber wenn man anhand Ihrer Recherche eine Hochrechnung macht: mehr als 40 Tiktok- "Sprachschulen", die innerhalb von nur einer Woche akquiriert wurden, alle geben an, pro Woche bis zu 200 Kunden zu bedienen - und Ihre beiden Festnahmen in München und Hamburg bestätigen das ja auch - dann ist das ein Dunkelfeld, das, hochgerechnet auf die vergangenen zwei Jahre, jede Dimension sprengt. Wenn man jetzt noch die monetäre Komponente dazu nimmt, das heißt, wie viel Geld damit verdient wird und zum anderen, welche Schäden beispielsweise im Sozialsystem entstehen, dann landet man definitiv im Milliardenbereich.

Was schätzen Sie, wie viele kommen mit gefälschten Zertifikaten ins (Sozial-)System rein?

Ich habe den Tiktok-Trend in den vergangenen Monaten aktiv verfolgt und das, was Sie recherchiert haben, spiegelt auch meine Wahrnehmung wider: Im Moment explodiert das Angebot. Der Algorithmus kickt gerade so richtig, wie man so schön sagt. Die Karten werden gerade mit dem Algorithmus ganz neu gemischt, allerdings nicht für das (Vergabe-)System, nicht für den Staat, sondern für die Leute, die ihre Zertifikate fälschen. Und wenn es dem Staat und den institutionellen Behörden nicht langsam klar wird, dann gibt es einen Migrations- und Leistungsbetrug ungeahnten Ausmaßes, wenn dieses System so weiter funktioniert.

Haben Sie als Polizeibeamter das Gefühl, Gehör zu finden?

Wir sind als Polizei immer als Erste vor Ort, wenn etwas passiert; wir wissen seit zwei Jahren, dass dieser Betrug stattfindet. Aber wir werden immer und immer wieder von der Politik enttäuscht. Seit 2015 äußern wir immer wieder Bedenken, insbesondere in Bezug auf die Migration. Es ist immer und immer wieder Thema. Aber die Politik? Die handelt nicht. Und dabei geht es ja im ersten Schritt erst mal um das Erkennen! Denn erst, wer etwas erkannt hat, kann auch dementsprechend handeln.

Mit dem Polizisten sprach Liv von Boetticher

Warum bundesweit Ausländerbehörden überfordert scheinen, wie die Betrugsmasche funktioniert und wie die Kriminellen reagieren, wenn man sie mit ihren Taten konfrontiert: Die gesamte Recherche "Geheimer Passbetrug auf Tiktok" zeigt am Dienstag, den 9. September 2025 um 22.15 Uhr das TV-Magazin "RTL Extra".

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