Wer als Ausländer dauerhaft in Deutschland leben oder gar Staatsbürger werden will, muss Integration und Sprachkenntnisse nachweisen - oder kauft falsche Zertifikate im Internet. RTL, ntv und "Stern" decken das geheime Geschäft krimineller Banden auf. Politik, Polizei und Behörden: in weiten Teilen offenbar ahnungs- und machtlos.
Die Tiktok-Videos sind schrill, fast alle mit arabischer, türkischer oder albanischer Musik unterlegt. Auf der Social-Media-App hat sich offenbar ein eigener Wirtschaftszweig gebildet: das Geschäft mit gefälschten Zertifikaten. In unzähligen Videos preisen verschiedene Accounts ihre Dienste an. Sie geben sich als vermeintliche Sprachschulen aus. Ihr Angebot: "A1, A2, B1, B2, C1, C2, Ohne Schule. Ohne Prüfung", während im Hintergrund der Videos zum Beweis haufenweise Zertifikate zu sehen sind.
Die Preise für das begehrte B1-Sprachzertifikat und den Politik- und Gesellschaftstest "Leben in Deutschland" variieren dort zwischen 750 und 2700 Euro. Einige Anbieter werben sogar mit Mengenrabatt, wenn man für Freunde und Familie mitbestellen will. Besonders beliebt scheinen gefälschte Zertifikate von Telc, dem größten Sprachtestanbieter Deutschlands. Doch auch Zertifikate anderer Anbieter wie einer Volkshochschule werden angeboten. Andere Produkte wie Führerscheine oder den Sachkundenachweis der IHK für Arbeit im Sicherheitsgewerbe findet man ebenfalls dort. Zusammen ein Rundum-sorglos-Paket.
Die Videos werden hunderttausendfach geklickt und massenhaft kommentiert. Einzelne Posts erreichen mehr als eine Million Abrufe, haben 800 Kommentare. "Bruder brauche B1 was kostet", steht dort beispielsweise. Vielfach findet die Kommunikation auf Arabisch, Türkisch oder Albanisch statt.
Kaum nachzuprüfende Zertifikate
Journalisten von RTL und "Stern" haben mit mehr als 40 Anbietern Kontakt aufgenommen. "Die Tiktok-Händler sind routiniert, bieten ihre Waren fast schon bedarfsgerecht und sehr serviceorientiert an", berichtet Investigativjournalistin Liv von Boetticher von ihren Erfahrungen der Recherche. "Auch für eine sich im Ausland befindende fiktive Afghanin hätten wir ein Zertifikat bekommen können." Ein Antrag auf Familiennachzug wäre so potenziell möglich.
Die Journalisten verabredeten sich zwischen Juli und August in drei Großstädten mit Händlern zur Übergabe. Im Vorfeld gab es nur einen kurzen Austausch auf TikTok, dann wechselte man auf WhatsApp, um die Formalitäten zu klären. Die Bezahlung erfolge erst bei der Übergabe, man solle sich vor Ort erstmal von der Qualität der Zertifikate überzeugen, heißt es dort. "Zwischen der Bestellung und der Übergabe vergingen jeweils weniger als vier bis fünf Tage", so RTL-Investigativjournalistin Liv von Boetticher. Bei der Übergabe bekamen die Journalisten täuschend echt aussehende Zertifikate inklusive QR-Code. Dieser führt beim Scannen zu Verifizierungszwecken auf eine ebenfalls täuschend echt aussehende Webseite, die von dem vermeintlichen Zertifikatsaussteller stammen soll.
Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ausländerbehörden auf den ersten Blick wohl kaum als Fälschung zu erkennen. Den Sicherheitsbehörden sind inzwischen bundesweit mehrere Fälle von Einbürgerungen bekannt, die mithilfe gefälschter Zertifikate vollzogen worden sind. Die Dunkelziffer müsse laut Insidern aus verschiedenen Polizeien und von verschiedenen Ausländerbehörden jedoch sehr hoch sein.
"Einmal drin heißt meistens: für immer drin"
"Wir erleben aktuell einen Kontrollverlust ungeahnten Ausmaßes", so ein Mitarbeiter aus einer Ausländerbehörde in NRW, der anonym bleiben möchte. "Wir sind kapazitätstechnisch vollkommen überlastet, viele Mitarbeiter auch gar nicht eingearbeitet oder geschult." Eine ordentliche Dokumentenprüfung finde daher vielerorts nicht mehr statt. Aus eigenen Erfahrungen berichtet er: "Von oben gab es zuletzt nur noch Druck, eine Quote zu erfüllen, so viele Menschen wie möglich einzubürgern."
Dabei, so betont es der Mann, gehe es bei den gefälschten Sprachzertifikaten und "Leben in Deutschland"-Tests nicht ausschließlich um eine Einbürgerung: "Diese Zertifikate braucht man auch schon, um im Rahmen des Chancen-Aufenthaltsrechts aus einer Duldung heraus einen Aufenthaltstitel zu bekommen, das betrifft also eine viel, viel größere Anzahl an Menschen als die reine Einbürgerung." Und wer es einmal mithilfe eines gefälschten Zertifikats ins deutsche System geschafft hat, hat seinen Schilderungen zufolge wenig zu befürchten. "Wenn ein Zertifikat einmal von einer Behörde durchgewinkt wurde, dann passiert es in den seltensten Fällen, dass dies von anderen Behörden noch mal kritisch begutachtet wird. Einmal drin heißt meistens: für immer drin."
Das aktuelle System, so beschreiben es verschiedene Polizeien in ganz Deutschland und Mitarbeiter von Ausländerbehörden, sei ein Einfallstor für Betrüger. "Das Geschäft lief bisher nahezu störungsfrei, die Händler hatten bis dato wenig Grund, besorgt zu sein, dass ihr Geschäftsmodell in Gefahr ist", so von Boetticher über die Ergebnisse ihrer Recherchen.
Wie groß ist das Phänomen?
Kaufen statt lernen - die Motivation dahinter ist oft pragmatisch: "Wir erleben es häufig, dass Migranten in Deutschland lieber gleich arbeiten wollen, möglicherweise auch in einem Umfeld, wo die Muttersprache gesprochen wird. Deutsch zu lernen, tritt dann erst mal in den Hintergrund und wird erst wieder relevant, wenn man den Nachweis beim Amt braucht", so der Mitarbeiter einer Ausländerbehörde in NRW. Andere wollten ihm zufolge auch Zeit sparen und schneller an Aufenthaltsrechte kommen. "Manche Personen können auch schlicht nicht lesen und schreiben", berichtet ein Polizist, der anonym bleiben möchte. "Möglicherweise glauben sie, dass der Kauf eines Zertifikats für sie der vermeintlich einzige Weg ist, an das Dokument heranzukommen. "
Das Ausmaß ist bislang schwer zu beziffern. Kaum ein Innenministerium der Länder kann auf Rückfrage überhaupt mitteilen, wie viele Einbürgerungen oder Niederlassungserlaubnisse aufgrund von bekannt gewordenen Betrugsfällen in den vergangenen fünf Jahren tatsächlich zurückgezogen wurden. Das Bundesverwaltungsamt zählt für diesen Zeitraum insgesamt 1009 zurückgezogene Einbürgerungen in Deutschland. In diesem Jahr ist mit aktuell rund 270 Fällen wohl ein neuer Rekord erreicht. Ob die Rücknahme der Einbürgerung aufgrund von gefälschten Zertifikaten erfolgt ist, wird jedoch nicht erfasst.
Eine Abfrage bei den Polizeien der zehn größten Städte Deutschlands zur Zahl aktueller Ermittlungen im Zusammenhang mit Sprachzertifikatsbetrug verlief nahezu ergebnislos. "Für die Phänomene (...) erfolgt keine gesonderte statistische Erhebung", hieß es zum Beispiel aus Berlin. Städte wie Hamburg und Frankfurt melden eine mittlere zweistellige Zahl an aktuellen Ermittlungen. Insider der Polizei aus verschiedenen Bundesländern berichten jedoch von laufenden Ermittlungen, die zum Teil mehr als 1000 Verdachtsfälle beinhalten sollen.
Der Leiter einer Ausländerbehörde aus dem süddeutschen Raum hat hingegen andere Erfahrungswerte. In einer einwöchigen Recherchearbeit ermittelte er im Alleingang rund 340 gefälschte Zertifikate. Diese waren zuvor bundesweit eingereicht worden, nicht nur in seiner Behörde. Dem Mann war zuvor ein gefälschtes Zertifikat aufgefallen, dessen QR-Code auf eine gefälschte, aber täuschend echt aussehende Seite des Sprachtestanbieters führte. Mittels "Try and Error" der Zahlenkombinationen innerhalb der URL fand er heraus, dass sich hinter einem gefälschten Zertifikat noch 340 weitere "versteckten". Inzwischen, so berichtet er es den Journalisten von RTL, "Stern" und ntv, habe er Zweifel, "ob es überhaupt noch ehrliche Antragsteller gibt".
Warum bundesweit Ausländerbehörden überfordert scheinen, wie die Betrugsmasche funktioniert und wie die Kriminellen reagieren, wenn man sie mit ihren Taten konfrontiert: Die gesamte Recherche "Geheimer Passbetrug auf Tiktok" zeigt am Dienstag, den 9. September 2025 um 22.15 Uhr das TV-Magazin "RTL Extra".
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