Kaupo Rosin, seit 2022 Chef von Estlands Auslandsgeheimdienst (EFIS), hat eine lange Karriere als Geheimdienstmitarbeiter hinter sich. Der 48-Jährige war zuvor Leiter des Militärgeheimdienstes seines Landes und bekleidete eine leitende Funktion im Nachrichtendienst der Nato in Brüssel.

WELT: Herr Rosin, haben Sie Sorge, dass sich die Sicherheitslage in Europa künftig verschlechtern wird?

Kaupo Rosin: Das hängt von uns ab. Wir wissen, was die russische Ambition ist: Die Ukraine unter Moskaus Kontrolle zu bringen und dann Einfluss zu nehmen auf die gesamte europäische Sicherheitsordnung. Die Frage ist, ob wir Russland erlauben, dabei erfolgreich zu sein. Wenn ja, dann haben wir ein Problem in Europa.

WELT: Was meinen Sie konkret?

Rosin: Die militärische Ambition Russlands ist zweigleisig. Erstens: Moskaus Ziel ist, dass die Nato so weit wie möglich von der russischen Grenze zurückgedrängt wird. Das will Moskau durch Verhandlungen erreichen, und zwar im Kontext der Ukraine-Gespräche. Wir müssen uns darauf einstellen: Es wird bei Verhandlungen mit Moskau nicht nur um die Ukraine gehen, sondern auch um die Sicherheitsarchitektur in Europa. Es hängt von uns ab, ob wir an dieser Stelle Zugeständnisse machen, oder nicht. Zweitens: Moskaus setzt auf eine Militärreform, die künftig zu einer verstärkten russischen Truppenpräsenz an den Grenzen zu Nato-Staaten führt. Wir sehen, dass die Militärreform im Gange ist, neue Einheiten werden bereits seit einiger Zeit in Grenznähe stationiert. Wir sehen aber auch, dass diese Einheiten nach ein bis zwei Wochen Training schnell in die Ukraine verlegt werden, um dort zu kämpfen. Aber sie werden irgendwann zurückkommen.

WELT: Erwarten Sie, dass Russlands Machthaber Putin durch schwere Provokationen oder begrenzte Angriffe auf ein Nato-Mitglied den Verteidigungswillen des Westens testen wird – und zwar früher als allgemein angenommen, also noch vor 2029?

Rosin: In diesen Fragen mit Jahreszahlen zu hantieren, ist nicht glaubwürdig für mich. Ob und wann Russland den Westen angreifen wird, hängt auch von unserer Fähigkeit ab, abzuschrecken und uns zu verteidigen.

WELT: Warum wollen Sie keine Jahreszahl nennen?

Rosin: Weil ich in der russischen Planung keine Zahl sehe. Ich habe diese Information nicht.

WELT: Könnte Russland die Nato heute besiegen?

Rosin: Russland respektiert derzeit die Nato. Die Analyse westlicher Militärs ist, dass die russischen Streitkräfte einen Konflikt mit der Nato auf konventioneller Ebene derzeit wahrscheinlich verlieren würden. Unsere Aufgabe ist, dass das so bleibt. Aktuell hat Russland mit der Ukraine genug zu tun. Die meisten Ressourcen gehen dorthin. Darum müssen wir die Ukraine weiter unterstützen – und zwar viel stärker als bisher. Es darf nicht passieren, dass Russland die Ukraine politisch und militärisch dominiert. Ein siegreiches und siegestrunkenes Russland würde ganz schnell neue Ambitionen entwickeln. In diesem Fall würde Russland dann auch über die Ressourcen der Ukraine verfügen, also Bodenschätze, strategisch günstige Orte für Angriffe gegen Nato-Länder, Soldaten und Waffen.

WELT: Wie plant Moskau einen Angriff?

Rosin: Die Russen machen normalerweise zwei Kalkulationen, wenn sie sich für einen Konflikt vorbereiten: Eine Kalkulation ist die Eskalationskontrolle, um nach ihrem Willen eskalieren und deeskalieren zu können. Das hat in der Ukraine nicht geklappt, da haben sie sich verrechnet. Die zweite Kalkulation, die Moskau macht, ist ein Vergleich der Streitkräfte, also der militärischen Macht. Unser Ziel muss sein, dass diese beiden Kalkulationen immer vorteilhaft für uns ausgehen – und zwar zu jeder Zeit. Das heißt, die Nato-Verteidigungspläne müssen realistisch und angemessen sein. Wenn wir das tun, werden wir Russlands Eroberungswillen eindämmen.

WELT: Kann sich Putin überhaupt erlauben, diesen Krieg schnell zu beenden?

Rosin: Das ist eine schwierige Frage. Auf der einen Seite müssen wir feststellen: Die Wirtschaft ist in einem sehr schlechten Zustand. Putin hat gesehen, dass die Sowjetunion wegen einer desaströsen wirtschaftlichen Lage kollabiert ist. Das ist in seiner Erinnerung fest verankert. Wenn wir die Sanktionen weiter verschärfen – was unbedingt nötig ist -, dann dürfte es immer schwerer werden für Russland, den Krieg noch lange weiterzuführen. Dann könnte der Konflikt möglicherweise schon Anfang des kommenden Jahres vorbei sein, wenn der Westen gleichzeitig seine militärische Unterstützung beibehält. Auf der anderen Seite gilt: Viele Soldaten sind Kriminelle oder geringqualifiziert. Wenn sie aus dem Militär in die Gesellschaft zurückkehren und mit deutlich weniger Lohn leben müssen, könnte das Instabilität schaffen. Im schlimmsten Fall für Putin würden die Veteranen beginnen, sich politisch zu organisieren. Das wäre eine Herausforderung für das Regime. Aus dieser Perspektive heraus hat der Kreml also kein Interesse an einem schnellen Frieden.

WELT: Führt Putin US-Präsident Trump an der Nase herum?

Rosin: Putin ist sehr sicher, dass er Trump austricksen kann. Putin ist auch überzeugt davon, dass er den Westen insgesamt täuschen kann.

WELT: Was ist Moskaus Strategie, sollte es zu Verhandlungen im Ukraine-Krieg kommen?

Rosin: Nach unserer Analyse wollen die Russen zwei Themen voneinander trennen: Ein Thema ist die Ukraine, das andere Thema sind die Beziehungen zwischen Russland und Amerika. Putins Kalkulation ist, dass man das Thema Ukraine endlos verhandeln kann, auch weil Moskau weiterhin überzeugt ist, die Ukraine noch besiegen zu können – vor allem dann, wenn die westlichen Hilfen langsam bröckeln. Im Fall der Beziehungen zwischen Moskau und Washington würde Putin dann gerne über den Wegfall von Sanktionen, wirtschaftliche Zusammenarbeit, die gemeinsame Exploration von Bodenschätzen und andere schöne Dinge sprechen, die langsam Vertrauen zwischen beiden Seiten aufbauen können. Die Strategie ist dabei: Zwei voneinander unabhängige Verhandlungen mit zwei völlig unterschiedlichen Zeithorizonten zu führen. In Wirtschaftsfragen will Putin schnell vorankommen, im Fall der Ukraine-Gespräche eher nicht.

WELT: Der Auslandsgeheimdienst Estlands beobachtet, dass Russland zunehmend auf Sabotageakte im Westen setzt. Kann das noch schlimmer werden?

Rosin: Das ist Teil der unkonventionellen russischen Kriegsführung. Ich bin überzeugt, Moskau wird künftig noch stärker auf Sabotageakte im Westen setzen, es drohen im schlimmsten Fall sogar fürchterliche Anschläge auf öffentliche Plätze, U-Bahnen oder Flugzeuge. Die Initiierung von solchen Schockmomenten ist billig, das Risiko für die russischen Geheimdienste ist gering und die Täter sind meistens Kriminelle, die nur für Geld arbeiten und meistens nicht einmal wissen, wer ihr Auftraggeber ist. Der Westen muss sich künftig auf die Situation eines immer gefährlicheren russischen Staatsterrorismus einstellen. Es ist darum wichtig, dass die Nachrichtendienste ausreichend Möglichkeiten haben, frühzeitig dagegen vorzugehen. Das ist leider nicht überall der Fall.

WELT: Hat Ihr Dienst Hinweise, dass Moskau Atomwaffen einsetzen könnte?

Rosin: Nein. Aber die nukleare Rhetorik funktioniert aus Sicht Moskaus doch wunderbar. Russland ist zu dem Schluss gekommen, dass die Menschen im Westen vor dieser Drohung große Angst haben und die Politiker auch deswegen die westliche Unterstützung für die Ukraine bewusst begrenzen und verzögern. Wir sehen in unseren Analysen, dass die nukleare Drohung sehr methodisch von Russland genutzt wird. Dabei ist der Einsatz von taktischen Atomwaffen im Ukraine-Krieg mit einer sehr großen Wahrscheinlichkeit auszuschließen.

WELT: Warum?

Rosin: Er könnte sehr gefährliche Dynamiken für Putin auslösen. Das wäre eine unkontrollierbare Situation für Russland, denn die Reaktion des Westens ist völlig ungewiss und könnte sehr entschlossen ausfallen. Zudem würde Russland seinen Ruf als friedensliebende Nation im Globalen Süden und vor allem in China verlieren. Und wenn ich mir die Ausbildung der aktuellen russischen Truppen an der Front anschaue, dann muss ich sagen: Diese meisten Soldatinnen und Soldaten wären nicht in der Lage, einen Krieg zu führen, in dem auch nukleare Waffen eingesetzt werden. Sie könnten vermutlich nicht einmal für ihre eigene Sicherheit sorgen.

Philipp Fritz berichtet im Auftrag von WELT seit 2018 als freier Korrespondent in Warschau über Ost- und Mitteleuropa.

Christoph B. Schiltz ist Korrespondent in Brüssel. Er berichtet unter anderem über Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, die europäische Migrationspolitik, die Nato und Österreich.

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