Hanno Pevkur, Jahrgang 1977, ist seit 2022 Verteidigungsminister Estlands. Pevkur und dessen Regierung gelten als entschiedene Unterstützer der von Russland überfallenen Ukraine. Im Gespräch mit WELT erklärt Pevkur, welche Bedeutung Sicherheitsgarantien für die Ukraine haben, wie sich die Sicherheitslage in Europa verändert hat und er sagt, was er vor diesem Hintergrund von der Bundesregierung erwartet.
WELT: Herr Pevkur, seit dem Treffen der Europäer mit Donald Trump im Weißen Haus ist verstärkt die Rede von Sicherheitsgarantien für die Ukraine – und das, obwohl Russland die Kampfhandlungen nicht einstellt. Wie können Sicherheitsgarantien für die Ukraine aussehen?
Hanno Pevkur: Tatsächlich sprechen wir schon länger über Sicherheitsgarantien, das Thema ist keineswegs neu. Die große Frage jetzt ist: Welche Rolle können die USA dabei spielen? Im Idealfall fassen wir den Begriff Sicherheitsgarantien weit und einigen uns auf etwas, das wir Europäer mit den Amerikanern gemeinsam tun. Wir Europäer also reisen nach Washington und besprechen genau das mit den Amerikanern: was die Amerikaner für die Ukraine tun können.
WELT: Wie sieht denn nun die Unterstützung der Amerikaner für die Ukraine aus und wie würden die USA die Europäer möglicherweise unterstützen, um einen Waffenstillstand abzusichern?
Pevkur: Mir wäre es am liebsten, wir könnten der Ukraine eine Nato-Mitgliedschaft anbieten. Das wäre die beste Sicherheitsgarantie. Doch Donald Trump hat deutlich gesagt, dass er das nicht unterstütze. Also gehen wir davon aus, dass eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine wenigstens für die nächsten vier Jahre ausgeschlossen ist. Dann müssen die USA etwas anbieten, das zu europäischen Garantien hinzukommt und substanziell ist. Es gibt Diskussionen über eine Truppenpräsenz in der Ukraine. Aber dazu möchte ich mich im Detail jetzt nicht äußern. Eins ist klar: Eine Entsendung von europäischen Truppen wird es erst geben, wenn ein Waffenstillstand in Kraft getreten ist.
WELT: Es ist zu erwarten, dass die russische Seite sich gegen westliche Truppen in der Ukraine aussprechen wird. Da Russland ein ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat ist, ist auch mit einem UN-Mandat für eine solche Mission nicht zu rechnen. Wie sollen die Europäer vor dem Hintergrund dieser Annahme handeln?
Pevkur: Wissen Sie, vieles hängt davon ab, unter welchen Bedingungen die Kampfhandlungen enden. Zuerst müssen die Waffen schweigen, dann können wir vielleicht sogar über Frieden sprechen. Ich habe Hinweise nach dem Treffen von Trump mit Wladimir Putin in Alaska wahrgenommen, dass so eine Lösung nicht ausgeschlossen ist. Wir gehen häufig davon aus, dass Russland einer Absicherung eines Waffenstillstands durch europäische Truppen nicht zustimmen wird. Das heißt aber nicht, dass das auch so bleibt. Also, wir müssen uns schon jetzt eng mit der Ukraine abstimmen und auch dafür sorgen, dass die Ukrainer zukünftig selbst über Abschreckungsmittel verfügen, um einen möglichen Frieden abzusichern. Wir müssen die ukrainischen Streitkräfte weiter ausrüsten und trainieren. Das ist ein Teil des Plans. Über wie viele Brigaden die Ukrainer in einigen Monaten verfügen werden, müssen sie selbst entscheiden. Wir aber können anbieten, diese Brigaden so gut es geht auszustatten und sie weiter zu trainieren. Dazu kämen Sicherheitsgarantien in Form europäischer Truppen, so wie wir sie auch im Baltikum haben.
WELT: US-Präsident Trump schien zu erwarten, dass es bald zu einem Treffen zwischen Putin und Wolodymyr Selenskyj kommt. Moskau zeigt allerdings kein Interesse mehr an so einem Treffen. Es ist lediglich das jüngste Beispiel für mangelnde Verlässlichkeit auf russischer Seite. Wie können die Europäer sich darauf verlassen, dass Russland sich an Abmachungen hält, zumal einen Waffenstillstand?
Pevkur: Die Geschichte lehrt uns, dass es zu Veränderungen kommen kann. Blicken wir auf das 20. Jahrhundert und all die Kriege, die Russland gegen seine Nachbarn begonnen hat: zum Beispiel 1918 gegen Estland, gegen mein Land, dann den Winterkrieg, den sowjetisch-finnischen Krieg, und die Folgekriege, später Tschetschenien, Georgien, die Ukraine. Russland beginnt oft Kriege. Daraus müssen wir lernen, dass wir zusammenstehen und der Ukraine Sicherheitsgarantien geben müssen. Wir hören oft, dass es Russland um Territorium geht, dass Moskau die vier Regionen im Osten und die Krim dauerhaft haben möchte. Die Erklärung dafür ist einfach: Putin hat diese Regionen über die Duma zu russischem Territorium erklärt. Dahinter wird Putin nicht zurückgehen; ich denke nicht, dass er sich wieder an die Duma wenden, sich für einen Fehler entschuldigen und das rückgängig machen wird. Worauf die Ukraine und Russland sich einigen werden, wissen wir heute schlicht noch nicht. Derzeit ist überhaupt nicht so wichtig, was Putin denkt, sondern was die Ukrainer beschließen. Die Nachbarn Russlands wissen, dass Russland an dauerhaftem Frieden kein Interesse hat. Das haben wir in den vergangenen hundert Jahren immer wieder erfahren.
WELT: Sie haben es angesprochen, lassen Sie uns über die Ukraine hinausschauen. Estland grenzt ebenfalls an Russland. Selbst wenn es zu einem Waffenstillstand in der Ukraine kommt, für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass Russland gegen ein Land an der Nato-Ostflanke eskaliert, zum Beispiel gegen Ihr Land?
Pevkur: Unsere Wahrnehmung von Russland hat sich nicht geändert. Wir können unsere geographische Lage nicht ändern. Wir sind ein Nachbar Russlands. Das bedeutet, dass wir unsere eigenen Streitkräfte und unsere Gesellschaft auf einen Konfliktfall vorbereiten müssen. Wir sind bereit, unser Land zu verteidigen. Sehen Sie, die Lage ist heute eine andere, als 1918. Damals hatten wir einige tausend Soldaten, nicht alle waren mit einem Gewehr ausgestattet – und dennoch haben wir die Russen zurückgeschlagen und sogar Territorium besetzt. Heute würden wir im Kriegsfall über eine Armee von 44.000 Männern und Frauen verfügen – in Estland leben 1,3 Millionen Menschen. Wir sind gut ausgestattet, wir verfügen über Langstreckenwaffen und – das ist am wichtigsten – wir sind in der Nato. Würden wir davon ausgehen, dass die Nato ihren Zweck nicht erfüllt, dann müsste man sich auch in Deutschland oder Spanien große Sorgen machen. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass die Nato ihren Zweck erfüllt. Ich sehe als Verteidigungsminister die Übungen, ich sehe, wie unsere Truppen zusammenarbeiten und sich vorbereiten. Glauben Sie mir, wir sind stark und vorbereitet. Das ist unsere Körpersprache, wir haben keine Angst, wir sind bereit, unser Land zu verteidigen und unsere Partner sind es auch.
WELT: Wir haben über ein hypothetisches Kriegsszenario gesprochen. Es gibt jedoch Experten, die sagen, dass Europa sich bereits jetzt nicht mehr im Frieden befindet: Russland wendet sogenannte hybride Methoden gegen Europa an: Sabotage, Angriffe auf Unterseekabel, Cyber-Angriffe, Desinformationskampagnen. Estland ist oft davon betroffen. Gehen die Europäer angemessen mit diesem Phänomen um?
Pevkur: Wir müssen verstehen, dass die Sicherheitsumgebung in Europa sich spätestens mit Russlands Angriff auf die Ukraine 2022 geändert hat. Ich gehe nicht davon aus, dass sich das mit dieser russischen Führung noch mal ändern wird. Dem müssen wir uns also anpassen. Wenn wir über einen dauerhaften Frieden in der Ukraine sprechen, müssen wir auch über eine dauerhafte, bleibende Bedrohung durch Russland sprechen und anerkennen, dass sich die Sicherheitslage geändert hat. Wir müssen Wege finden, damit umzugehen und darauf reagieren. In Estland werden wir schon im nächsten Jahr mehr als fünf Prozent für Verteidigung ausgeben und das nicht nur für zwei oder drei Jahre, sondern auf absehbare Zeit. Weil wir anerkennen, dass die Lage es erfordert, wie im Kalten Krieg.
WELT: Sie erwähnen den Kalten Krieg. Seinerzeit waren die USA zweifelsohne der wichtigste Sicherheitsgarant für Westeuropa. Unter Donald Trump scheint sich die Rolle der USA für Europa zu ändern. Wie müssen die Europäer darauf reagieren?
Pevkur: Was in Washington gesagt wird, ist genauso wichtig, wie das, was wir sagen und tun. Wir Europäer sind mehr als 500 Millionen, die USA haben 340 Millionen Einwohner. Die Verteidigungsausgaben in den USA gehen runter, das ist der Trend. Wir geben mehr aus und werden noch mehr ausgeben. Wir müssen unsere Fähigkeiten ausbauen und signalisieren, dass wir bereit sind, im Zweifel Russland Schaden zuzufügen. Die Ukrainer bauen gerade ihre Langstreckenfähigkeiten aus. Auch ohne die USA können sie tief in Russland Operationen durchführen. Der neue ukrainische Marschflugkörper kann 3000 Kilometer weit fliegen. Jedes Land muss bereit sein, sich selbst zu verteidigen. Wenn wir unsere Kräfte zusammennehmen, muss Russland begreifen, dass es sich nicht lohnt, gegen uns vorzugehen. Wir würden sofort mit Härte zurückschlagen.
WELT: Sehen Sie, dass in anderen europäischen Hauptstädten auch so gedacht wird? Angehörige der deutschen Bundesregierung etwa würden kaum so kämpferisch reden, wie Sie.
Pevkur: Ich erwarte von der Bundesregierung Führung. Deutschland hat das Potenzial hier vorneweg zu gehen. Mein Freund und Kollege Boris Pistorius ist da sehr klar, auch Kanzler Friedrich Merz ist es. Die Deutschen sagen, dass sie die stärkste Armee in Europa aufbauen wollen. Das ist eine gute Nachricht für uns. Wir brauchen das, ein starkes Deutschland, das Russland zeigt, was es kann und das in Europa eine Führungsrolle einnimmt.
Christoph B. Schiltz ist Korrespondent in Brüssel. Er berichtet unter anderem über Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, die europäische Migrationspolitik, die Nato und Österreich.
Philipp Fritz ist seit 2018 freier Auslandskorrespondent für WELT und WELT AM SONNTAG. Er berichtet vor allem aus Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei sowie aus den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich mit rechtsstaatlichen und sicherheitspolitischen Fragen, aber auch mit dem schwierigen deutsch-polnischen Verhältnis.
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