US-Präsident Trump will Frieden in der Ukraine stiften, aber die Europäer dafür in die Pflicht nehmen. Sollen deshalb europäische Soldaten in die Ukraine geschickt werden – und wenn ja, wie viele? Die Meinungen dazu gehen auseinander. Einen ersten Plan haben die Nato-Partner bereits.
Vielleicht träumt Donald Trump weiter vom Friedensnobelpreis. An seiner Rolle als Friedensstifter für die Ukraine hält der US-Präsident jedenfalls fest. Trump versucht, seine russischen und ukrainischen Amtskollegen bald an einen Tisch zu bringen. Sollten Wolodymyr Selenskyj und Wladimir Putin tatsächlich ernsthaft verhandeln, wird sich der Blick anschließend auf die Europäer richten - mit der Frage: Was wollen sie konkret leisten für die Sicherheitsgarantien der Ukraine?
Eines gleich vorweg: Bevor irgendein europäisches Land auch nur einen Soldaten in die Ukraine schickt, muss es einen Waffenstillstand mit Russland geben. Wenn die Waffen irgendwann schweigen, werden die Europäer helfen müssen, den Frieden militärisch abzusichern. Trump sprach zwar von US-Sicherheitsgarantien für Kiew ähnlich der Beistandspflicht nach Artikel 5 der Nato - schwieg jedoch zu weiteren Details. Zudem stellte US-Vizepräsident JD Vance klar: Die USA wollten nur eine minimale Rolle bei der Friedenssicherung spielen; die hauptsächliche Arbeit sehen sie bei den Europäern.
Müssen deshalb europäische Soldaten in die Ukraine geschickt werden - und wenn ja, wie viele? Unter Experten gehen die Meinungen darüber weit auseinander. Zehn europäische Länder erklären sich laut einem Medienbericht dazu bereit, sich an einem Einsatz innerhalb einer "Koalition der Willigen" in der Ukraine zu beteiligen. Der Plan ist demnach bereits fortgeschritten. Es werde schon über Einsatzorte und Truppenumfang diskutiert.
Studie skizziert Modell mit 150.000 europäischen Soldaten
Außenminister Johann Wadephul jedenfalls sieht Deutschland in der Pflicht. Auf die Bundeswehr würden Forderungen nach einer Beteiligung an der Koalition der Willigen zukommen, sagt er. Die Bundesregierung könne sich ihrer Verantwortung kaum entziehen, Kiew auch personell Beistand zu leisten, sagt Sicherheits-Experte Rafael Loss, der beim European Council on Foreign Relations (ECFR) forscht. "Deutschland kann sich nicht hinter seiner humanitären Hilfe und den Waffenlieferungen verstecken und dann sagen: Wir bezahlen gerne, aber den Job, der mit Risiken behaftet ist, den übernehmen doch lieber andere. Das entspricht nicht der Realität der Zeitenwende", sagt Loss ntv.de.
Es gibt verschiedene Modelle über die Stationierung europäischer Truppen in der Ukraine. Eines skizzierten Claudia Major und Aldo Kleemann in einer Studie für die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) Anfang dieses Jahres. Demnach müsste die Ukraine die ehemalige Front mit etwa 200.000 Soldaten gegen erneute russische Angriffe sichern, um Putin glaubhaft abzuschrecken. Die Autoren berechnen die dafür einsatzfähigen ukrainischen Truppen und kommen auf "eine zusätzlich notwendige westliche ideale Kontingentstärke von etwa 150.000 Soldaten". Zur Abschreckung an der Nulllinie, also der ehemaligen Front nach einem Waffenstillstand, müssten diese Kräfte ständig bereit sein und deshalb rotieren, sagt Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer. Ein Kontingent ist im Einsatz, eins regeneriert sich vom letzten Einsatz, eins bereitet sich auf den nächsten Einsatz vor. Macht 150.000 Soldaten mal drei.
Als die Studie vor einigen Monaten erstellt wurde, waren zwei entscheidende Aspekte unklar: Erstens wusste niemand, ob Trump überhaupt zu irgendeiner Form von Sicherheitsgarantien bereit sein würde; zweitens wusste auch die Koalition der Willigen unter der Führung Frankreichs und Großbritanniens noch nicht, wie sich ein möglicher Einsatz in der Ukraine gestalten könnte. Bei den veranschlagten 450.000 europäischen Soldaten handle es sich um ein Modell, bei dem diese Truppen auch an der "unmittelbaren Abschreckung mittels Kampftruppen" beteiligt sein würden, sagt Loss. Die Koalition der Willigen habe sich jedoch inzwischen darauf geeinigt, dass die ukrainischen Streitkräfte die Abschreckung und Verteidigungsbereitschaft an der Front weitgehend allein bereitstellen. Die Verbündeten aus Europa würden dann für Aufgaben im Hintergrund gebraucht. Und die Pläne für eine "Multinationale Truppe Ukraine" nehmen schon Gestalt an.
Britischer Offizier soll Hauptquartier in Kiew leiten
Details über die militärischen Kommando- und Kontrollstrukturen dieser Truppe verriet der britische Verteidigungsminister John Healey im Juli vor Abgeordneten des britischen Unterhauses. "Wenn die Truppe eingesetzt wird, wird es in Kiew ein Koordinierungshauptquartier geben, das von einem britischen Zwei-Sterne-Militäroffizier geleitet wird. Es wird die Landstreitkräfte durch die Bereitstellung von Logistik, Bewaffnung und Ausbildungsexperten wiederaufbauen", sagte Healey. Zudem würden die Europäer bei der Sicherung des ukrainischen Luftraumes helfen, indem sie mit Flugzeugen eine ähnliche Unterstützung wie bei der Luftraumüberwachungs-Mission der Nato leisten. Für die Sicherheit auf der See sei eine Verstärkung der Schwarzmeer-Taskforce mit zusätzlichen Spezialisten-Teams geplant.
Es besteht also kein Zweifel: In der Nato wurden schon detaillierte Absprachen über einen europäischen Einsatz getroffen. Für die aktuellen Pläne zur Unterstützung der Ukrainer im Hinterland, zur See und in der Luft würden aber nicht Hunderttausende europäische Soldaten benötigt, sagt Loss. Zu Beginn könnten Frankreich, Großbritannien und Deutschland beispielsweise je 100 ihrer Leute schicken; nach etwa einem Jahr könnte die Truppe insgesamt auf etwa einige Tausend anwachsen, schätzt der Experte. Eventuell können sich die Alliierten auf eine Aufgabenteilung verständigen: Ein Land führt die Aktivitäten zur maritimen Überwachung, ein anderes die Luftverteidigung und das dritte dann die Logistik, Beratung und Ausbildung zu Land an. Ein britischer Zwei-Sterne-General wird laut Healeys Angaben die Aktivitäten der Koalition in der Ukraine koordinieren, während ein französischer Drei-Sterne-General von Paris aus das gesamte Unterfangen anführt. Deutschland könnte an diese Führungsstruktur mit einigen Verbänden, insgesamt einige hundert Soldaten, andocken, sagt Loss.
"Es geht nicht darum, dass sich irgendein europäischer Soldat vor die Streitkräfte der Ukraine stellen soll", sagt der Militärexperte Nico Lange vom Center for European Policy Analysis gegenüber ntv.de. Die Ukrainer könnten ihre Frontlinie besser verteidigen als ihre Verbündeten. Um Kiew zu unterstützen, brauche es dennoch eine europäische und amerikanische Militärpräsenz. Zuvorderst müsse die Ukraine jedoch durch Waffenlieferungen gestützt werden, um angesichts der russischen Aufrüstung ihre "militärische Leistungsfähigkeit" zu erhalten.
Domröse hält Entsendung nur bei Angriffsfall für nötig
Die Luftraumüberwachung und -verteidigung könnte als Teil der Sicherheitsgarantie von den Partnern übernommen werden, so Lange. Hierbei sind die Europäer auf die USA angewiesen, etwa bei schwerem Lufttransport. Trump hatte zuletzt Unterstützung für die ukrainische Luftwaffe in Aussicht gestellt. Die maritime Überwachung ist laut Lange durch die Vereinbarung von Montreux bereits geregelt: Nur die Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres, also etwa die Türkei, Rumänien und Bulgarien, dürfen patrouillieren.
Es gibt auch eine völlig andere Sicht auf die Dinge - von Experten, die keinerlei europäische Militärpräsenz in der Ukraine für nötig halten. Die Ukrainer verteidigten ihre Front seit Jahren dermaßen bravourös, dass der Aufwand zu groß sei, europäische Truppen dort zu stationieren, sagt etwa der frühere Bundeswehrgeneral Hans-Lothar Domröse ntv.de. Er schlägt vor, die Sicherheitsgarantien stattdessen "over the horizon", also hinter dem Horizont - von zu Hause, auszusprechen. Sie würden erst ausgelöst, falls Putin einen Waffenstillstand in der Ukraine breche, sagt Domröse. Nur in diesem Fall würden die europäischen Länder Soldaten entsenden: Die ersten Luftstreitkräfte wären innerhalb weniger Stunden vor Ort, die Landstreitkräfte würden gestaffelt folgen. Im Idealfall gäbe es "50.000 gut ausgebildete und ausgerüstete Soldaten unter einheitlicher Führung in Europa, die immer bereit sind", sagt der ehemalige General.
"Einheitliche Führung" bedeutet in dem Fall eine Art "Nato Joint Force". Eine militärische Einsatztruppe, die Streitkräfte aus verschiedenen Staaten integriert einsetzen kann. Das Ziel: Abschreckungspotential gegenüber Putin bieten. Dafür muss die Truppe ein umfassendes Lagebild generieren können. Eines, das alle Domänen umschließt. Bei einer "Nato Joint Force" agieren mehrere Teilstreitkräfte, wie Heer, Luftwaffe, Marine sowie Cyberkräfte gemeinsam und abgestimmt. Eine solche Truppe leitete Domröse von 2012 bis 2016 in den Niederlanden. Er hält die Fähigkeiten und Kapazitäten der Europäer für ausreichend, um für die Ukraine Ähnliches auf die Beine zu stellen.
Domröses Modell wiederum steht ECFR-Experte Loss skeptisch gegenüber. "Je mehr europäische Truppen tatsächlich in der Ukraine sind, desto größer wäre die Abschreckungswirkung", sagt Loss. Es gebe zwar gewisse Risiken bei einer Stationierung, da Russland vermutlich hybride Attacken auf die Soldaten führen würde. Zudem sei der finanzielle Aufwand hoch. Doch die Ukrainer fühlten sich nur durch europäische Soldaten auf ihrem Territorium wirklich geschützt: "Je weiter die europäischen Truppen sich von diesem Modell wegbewegen, was die Größe betrifft, was die Entfernung zur Frontlinie betrifft, was die Zusammenstellung internationaler Verbände betrifft, desto mehr nimmt die Abschreckungswirkung ab. Sicherheitsgarantien ohne europäische Truppen im Land wären keine echte Rückversicherung für die Ukrainer."
Auch die Nato setze zum Schutz der Alliierten an der Ostflanke schließlich auf Vorwärtsstationierungen für Abschreckung und Rückversicherung. Zusicherungen auf Papier allein reichten der Ukraine nach den Erfahrungen mit dem Budapester Memorandum von 1994 nicht, so Loss. Im Budapester Memorandum verpflichteten sich die USA und Großbritannien im Gegenzug für den Verzicht der Ukraine auf ihre Atomwaffen zu Sicherheitsgarantien. Daraufhin folgten zahlreiche Verträge mit Russland, die allesamt gebrochen wurden.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke