Im Weißen Haus wird es am Abend historisch. Trump empfängt erst Selenskyj, dann mehrere europäische Regierungschefs. Oberst Reisner ordnet im Interview ein, was von dem Treffen zu erwarten ist und wie ein Kompromiss aussehen könnte und wie die Lage in der Ukraine ist.

ntv.de: Herr Reisner, Russland bietet Friedensverhandlungen für Gebietsabtretungen. In der Oblast Donezk halten die Ukrainer aber noch 40 Prozent des Territoriums. Wie ist die Lage dort?

Markus Reisner: Wir sehen einen massiven Einbruch der Russen nördlich von Pokrowsk. Sie versuchen, die Versorgungslinien abzuschneiden. Die Ukrainer reagieren mit Gegenangriffen und konnten diesen Vorstoß vorerst abriegeln. Insgesamt beobachten wir russische Angriffe entlang der gesamten Frontlinie. Die Russen üben weiterhin massiven Druck aus.

Könnte man sagen: Die Russen werden die Oblaste im Donbass über kurz oder lang ohnehin besetzen, da könnte man sie jetzt auch als Verhandlungsmasse nutzen?

Dazu müsste es auf der ukrainischen Seite den klaren Willen dazu gehen. Da gibt es eine Diskrepanz zwischen der militärischen und der politischen Sicht. Viele Ukrainer fragen sich, warum die Truppen nicht in ein Gebiet zurückgezogen werden, das sich besser verteidigen lässt. Das ist schon seit langem eine Debatte. Selenskyj will keinen Meter Boden freiwillig aufgeben und will den Russen möglichst hohe Verluste zufügen. Es gibt aber durchaus auch jene, die jetzt auf einen Kompromiss dringen, bevor sich die Lage womöglich weiter verschlechtert. Trump bleibt aber der Königsmacher. Er kann den Konflikt in die eine oder die andere Richtung kippen lassen.

Unter welchen Umständen wären die Ukrainer überhaupt in der Lage, die Gebiete zurückzuerobern?

Für eine Offensive bräuchten sie einen Hammer, mit dem sie in der Tiefe zuschlagen könnten. Den haben sie aber nicht. Ihnen fehlen die Soldaten, Ausrüstung und Gerät. Sie bräuchten bis zu 3000 Kampfpanzer, Drohnenabwehr und viele weiteren Fähigkeiten, um überhaupt über einen Angriff nachdenken zu können. Nur um die bis jetzt von den Russen besetzten ukrainischen Gebiete zurückzuerobern.

Dass die Ukraine ohne Gebietsverluste aus dem Krieg herauskommt, erscheint also kaum vorstellbar - richtig?

So ist es. Das muss man ganz klar sagen. Ohne mehr Ressourcen hat sie keine realistische Aussicht darauf, diese Gebiete wieder zurückzuerobern. Zu einer umfassenden Offensive ist sie nicht in der Lage. Das sagt mittlerweile auch der ein oder andere europäische Staatschef. Doch Selenskyj will keine Kompromisse eingehen.

Russland hat die Initiative auf dem Schlachtfeld und schafft es, immer neue Soldaten in den Kampf zu schicken. Aber wie lange kann das noch so weitergehen? Könnte nicht ebenso Russland bald die Puste ausgehen? Macht Russland sich nicht stärker, als es ist?

Den Schwarzen Schwan, also ein plötzliches Ereignis, das alles ändert, können Sie nie ausschließen. Aber für einen Umsturz in Russland gibt es keine Anhaltspunkte. In der Ressourcenfrage hat hingegen Russland mächtige Verbündete. Die Hilfe von China, Nordkorea und dem Iran, letztlich auch Indien, macht einen riesigen Unterschied. Aber auch im Innern gibt es keine Hinweise auf Ermüdung. Im Moment rekrutiert Russland sogar mehr Soldaten. Viele glauben offenbar, der Krieg sei fast zu Ende und wollen sich noch die Bonuszahlungen sichern.

Sehen Sie in Putins Angebot ein Entgegenkommen?

Ich sehe zunächst einmal bereits seit Monaten Scheinverhandlungen. Russland spielt auf Zeit. Putin meint, er könnte den Krieg gewinnen. Trotz der Verluste sieht er eine positive Entwicklung an der Front. Zugleich sind die USA nicht mehr gewillt, die Ukraine weiter umfänglich zu unterstützen. Die Europäer sind untereinander nicht geschlossen. Jede Unterstützung ist ein Zitterpaket. Das alles bestärkt die Russen. In Russland wird der Gipfel von Alaska als riesiger Sieg gefeiert. Beim Treffen heute geht es, wenn kein Wunder geschieht, demnach nur um die Details eines Diktatfriedens.

Sehen Sie das auch so?

Es ist wie beim Pokerspiel. Entschieden wird das Spiel zwischen Russland und den USA. Beim Poker darf man aber nie den Eindruck vermitteln, wenn man ein schlechtes Blatt hat oder keine Lust mehr hat. Genau das tut Trump aber. Er sagt: Ich will nicht mehr. Vielleicht hat Putin ein viel schlechteres Blatt. Das wissen wir nicht. Putin erhöht aber den Einsatz und will sehen. Es ist nicht zu erwarten, dass Trump Selenskyj heute fragt, wo er ihm am besten helfen kann. Das Gegenteil wird der Fall sein. Er wird ihm etwas anbieten und ihm Druck machen. Trump wird Selenskyj damit drohen, ihn fallen zu lassen.

Putin verspricht ja auch, er werde die Ukraine nicht mehr angreifen. Aber wer soll ihm das glauben?

Exakt, Sie sind am Punkt. Es erinnert an die Jahre nach 2014. Außerdem soll er versprochen haben, keinen weiteren europäischen Staat anzugreifen, also beispielsweise Estland, Litauen oder Lettland. Es ist die Frage, ob er das ernst meint. Putin will auf Zeit spielen. Wenn wir die nun über Monate oder Jahre eine langwierige Verhandlungsdiplomatie sehen, geht der Krieg ja weiter. Für mich ist das eine Hinhaltetaktik.

Die Europäer wollen erst einen Waffenstillstand, dann Friedensverhandlungen, eben weil diese sehr lange dauern würden. Nun ist Trump auf Putins Linie eingeschwenkt. Hat er sich über den Tisch ziehen lassen?

Das ist aus meiner Sicht eindeutig. Vor dem Gipfel hatte Trump noch mit 100 Prozent Strafzöllen gegen Russland und seine Verbündeten gedroht und einen Waffenstillstand als Minimalziel gefordert. Nichts davon haben wir jetzt. Einen Friedensvertrag auszuhandeln, dauert Monate und Jahre. Ich finde es auch bemerkenswert, dass Trump bereits zwei Dinge zugestanden hat: Die Krim bleibt russisch und es wird keine Nato-Mitgliedschaft geben. Trump hat im Prinzip der heutigen Besprechung bereits vorgegriffen. Das ist ein Sieg für Putin. Ich kann es nicht anders bezeichnen.

Auch westliche Truppen könnten in der Ukraine stationiert werden. Wie muss man sich das vorstellen und welche Rolle müssten die Amerikaner spielen?

Zunächst einmal müssten diese Truppen das Mandat haben, die Sicherheitsgarantien auch durchzusetzen. Alles steht und fällt mit den USA. Die Russen werden diese Truppen nur ernstnehmen, wenn die Amerikaner mit ihrem nuklearen Schutzschirm hinter ihnen stehen. Wenn die Russen mit der Pistole in der Hand kommen und Sie kommen mit dem Messer, dann können Sie nicht viel erreichen.

Also, Fazit: Putins Angebot annehmen und glücklich sein?

Die Ukraine braucht unbedingt Luft zur Regeneration. Vielleicht wäre es ein Kompromiss, die Frontlinie einzufrieren und einen Waffenstillstand zu schließen. Der nächste Winter steht vor der Tür. Vielleicht kann die Ukraine die Gebietsverluste temporär akzeptieren, sie aber weiter als eigenes Territorium zu sehen. Es muss unbedingt belastbare Sicherheitsgarantien geben. Einen starken Schäferhund, der über die Herde wacht. Wer hindert sonst den russischen Bären neulich über die Herde herzufallen? Vielleicht hat Putin wirklich ein schlechtes Blatt und man muss nur weiter pokern. Die andere Möglichkeit: Man knickt ein und am Ende stellt sich heraus, dass die Russen ein schlechtes Blatt hatten. Aber solange die Amerikaner keinen Druck ausüben, wird Putin sein Blatt bis zum Äußersten reizen. Und im Moment sieht es so aus, als wären Trump und die USA mit diesem Krieg fertig.

Mit Markus Reisner sprach Volker Petersen

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke