Die Familie wurde im Kino der vergangenen Jahre und erst recht in seinem buckligen Verwandten, dem Fernsehen, ja meist als problematische Institution dargestellt, die den Menschen Schlimmes antut. Keiner, so die unausgesprochene Botschaft vieler dieser Anti-Familienfilme, kommt da unbeschädigt raus. Deshalb wärmt es das Herz, jetzt mal wieder 124 Minuten zu erleben, wie die Familie als Netzwerk der Stärke gefeiert wird. In diesem Sinne ist „Die Farben der Zeit“ ein Anti-Anti-Familienfilm.
Allerdings ist die Familie im Film des Regisseurs Cédric Klapisch („L’auberge espangnole“, „So ist Paris“) eine von deren Existenz die Mitglieder lange nichts ahnten. Für eine Erbschaftsangelegenheit ruft ein Notar fünf Dutzend Menschen zusammen, die erfahren, dass sie alle von einer Frau namens Adèle abstammen, die in den 1940er-Jahren, schon hochbetagt, verschwunden ist. Seitdem steht ihr Bauernhaus leer und ist verschlossen. Die Erben müssen nun entscheiden, ob es abgerissen werden und darauf ein Einkaufszentrum mit Parkplätzen gebaut werden darf.
Die Erben wählen vier von ihnen aus, die die Angelegenheit prüfen sollen: den Imker Guy, die Businessfrau Céline, den Lehrer Abdel und den jungen Fotografen Seb. Sie reisen in die Normandie und lassen sich das Haus aufbrechen, das seit 1944 verschlossen ist. In einem amerikanischen Film würde damit ein schlummernder namenloser Horror entfesselt werden, in Frankreich öffnet sich stattdessen ein Portal zur glamourösen Kulturgeschichte des Landes und Europas, mit der vier Erben auf eine überraschende Weise verknüpft sind.
Denn Adèle hat sich im späten 19. Jahrhundert von der Normandie aus auf den Weg nach Paris gemacht, um ihre Mutter zu finden, die sie als Baby bei der Großmutter zurückgelassen hat. Sie findet nicht nur ihre Mutter, sondern kommt auch in Berührung mit der brodelnden Pariser Kunstszene der Belle Époque. Einer von deren bedeutendsten Vertretern entpuppt sich schließlich als ihr Vater.
Die beiden Geschichten werden durch elegant miteinander verwobene Parallelhandlungen miteinander verbunden. Während Adèle (Suzanne Lindon) in Paris auch erotisches Neuland betritt, entdecken ihre Nachfahren im Haus Fotos von ihr und ihrer Mutter, die der legendäre Fotograf Nadar aufgenommen hat, der alle Prominenten seiner Zeit – von Bakunin und Sarah Bernhardt über Debussy und Berlioz bis hin zu sämtlichen impressionistischen Malern – vor der Linse hatte. Nun gilt es zu klären, von wem das impressionistische Gemälde stammt, das sie ebenfalls entdeckt haben.
Die Dynamik zwischen den vier Erben entwickelt sich unaufdringlich. Der Imker Guy (Vincent Macaigne) ist ein Späthippie und Globalisierungskritiker, der ein paar treffende Spitzen gegen die Parkplatz-und-Solarzellen-Moderne ablässt, ohne dass man im Geringsten das Gefühl hat, irgendwer wolle einen belehren. Ausgerechnet der algerischstämmige Lehrer Abdel (Zinedine Soualem) entpuppt sich als der ultrafranzösischste von allen mit seiner Liebe zur Klarheit und Schönheit der Sprache sowie seinem Beharren auf Ratio – er lehnt es sofort ab, mithilfe der Schamanendroge Ayahuasca Kontakt zu den Ahnen aufzunehmen, als Guy das vorschlägt.
Die anderen probieren es. So richtig funktioniert es aber nur bei Seb, der Céline von seiner Zeitreisevision berichten kann: „Victor Hugo hat dich angemacht.“ Diese Managerin Céline (Cecile de France) mit ihrem Faible für „Disruption“ wäre in jedem schlechteren Film eine Witzfigur oder ein Arschloch, hier ist sie ein Mensch, dessen Herz sich nach Liebe und Zugehörigkeit sehnt, wie alle anderen.
Diese Sehnsucht hat auch Seb (Abraham Wapler), nur weiß er es zu Beginn noch nicht. Der junge Filmemacher wird von seinem Großvater, der ihn nach dem Unfalltod der Eltern aufgezogen hat, geradezu gedrängt, sich dem Vierer-Familienteam anzuschließen. Doch dann macht er eine Entwicklung durch. Zu Beginn ist er noch so barbarisch-gedankenlos, dass er für ein Video mit seiner Influencer-Freundin sogar die Farbe eines Gemäldes von Manet manipulieren würde – am Ende findet er heraus, wie viel ihn auch persönlich mit diesem Maler verbindet.
Wie bei Woody Allen
Dafür muss er sich auf den besagten Ayahuasca-Trip zu den Vorfahren begeben. Seine Reise ins Paris des Jahres 1875 hilft ihm, sich von seiner oberflächlichen Freundin zu emanzipieren und seinen Weg zum eigenständigen Künstlertum zu gehen. Dieser Teil der Geschichte kommt einem bekannt vor. Es gab ja schon einmal einen Film, in dem ein Mann aus der Gegenwart im Paris der Vergangenheit berühmte Menschen trifft, die ihm helfen, aus einer festgefahrenen Lebenssituation auszubrechen.
2011 spielte Owen Wilson einen Drehbuchautor, der gerne Schriftsteller sein will. Die Menschen, die er traf, waren F. Scott Fitzgerald, Dalí, Picasso und Gauguin. Und der Regisseur war Woody Allen. „Die Farben der Zeit“ ist wie „Midnight in Paris“ – mit echten Franzosen statt mit Amerikanern. Beide Filme sind eine große Feier der Liebe, der Freiheit, der Menschlichkeit und der Kunst.
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