Europas Schwächen in der internationalen Sicherheitspolitik werden immer sichtbarer. Während die USA und Russland die Zukunft Europas verhandeln, bleiben die Europäer in Alaska außen vor. Auch die Videoschalte mit Merz und Selenskyj wird daran nur wenig ändern, sagt Sicherheitsexperte Nico Lange. Er warnt: "Wer nur bittet, wird nicht ernst genommen."
ntv: Wie bewerten Sie die heutigen Videoschalten von Friedrich Merz? War das ein kluger Schachzug?
Nico Lange: Es ist ein Erfolg, dass es Friedrich Merz gelungen ist, alle Beteiligten einzuladen - auch den US-Präsidenten -, um vor dem Gipfel noch einmal zu sprechen. Gleichzeitig ist es aber auch ein Zeichen der Schwäche der Europäer. Sie sind in Alaska nicht mit am Tisch und können nur Bitten äußern. Ob Trump diese berücksichtigt, bleibt ungewiss.
Wie hat Merz es geschafft, vorher nochmal alle an einen Tisch zu bekommen?
Man muss sehen, dass Merz einen gelungenen Antrittsbesuch in Washington hatte und seither häufiger mit Donald Trump telefoniert. In diesem Zusammenhang kam auch das Treffen in Berlin zustande. Merz hat zunächst mit Trump gesprochen und anschließend die anderen europäischen Staats- und Regierungschefs eingeladen.
Was erhofft sich Präsident Selenskyj von seiner Reise nach Berlin?
Selenskyj verfolgt zunächst einen praktischen Zweck: Wenn er außerhalb der Ukraine ist, fällt es ihm leichter, gegebenenfalls nach Alaska zu reisen - sollte es dazu kommen. Das ist bis zuletzt unklar geblieben. Trump möchte offenbar, dass Putin und Selenskyj gemeinsam mit ihm verhandeln. Von der Ukraine aus wäre eine solche Reise logistisch schwierig, von Berlin aus ist sie einfacher. Zudem will Selenskyj gegenüber der eigenen Bevölkerung zeigen, dass er alles unternimmt, um dieses Treffen zu beeinflussen - damit Entscheidungen nicht über die Köpfe der Ukrainer hinweg getroffen werden, die ihnen später schaden könnten.
Was können die Europäer in dieser Lage erreichen?
Die Europäer sind derzeit schwach aufgestellt - das ändert auch dieses Treffen nicht. Solange sie nur Bitten an Trump richten und selbst keine eigenen Beiträge leisten, brauchen sie sich nicht zu wundern, dass sie nicht ernst genommen werden und am Verhandlungstisch fehlen. Vor dem Treffen höre ich nur, was die Europäer von Trump fordern - rote Linien, mehr Druck auf Putin. Aber was tun Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien oder Finnland konkret selbst? Aus einer solchen Position der Schwäche wird man international nicht als ernstzunehmender Akteur wahrgenommen.
Gibt es denn überhaupt etwas, das die Europäer tun könnten?
Leider liegt nichts Konkretes bereit. Man verlässt sich zu sehr auf die Hoffnung, dass sich die Dinge irgendwie regeln - oder die Amerikaner die Arbeit übernehmen. Das ist ein grundlegendes Problem europäischer, insbesondere deutscher Außenpolitik. Einige EU-Länder kaufen zudem weiterhin russisches Gas, Öl oder LNG - während sie gleichzeitig Appelle an Putin richten, den Krieg zu beenden. Das ist widersprüchlich. Sanktionen werden nur halbherzig durchgesetzt, Umgehungen über Drittstaaten sind möglich und viele Unternehmen kooperieren weiterhin mit Russland. Auch bei den Waffenlieferungen agiert Europa zögerlich: ein bisschen, aber nie entscheidend. So bringt sich Europa nicht als starker Partner in die Verhandlungen ein - deshalb reden nun die USA und Russland darüber, wie es mit der europäischen Sicherheit weitergehen soll.
Wie bewerten Sie die Teilnahme von Donald Trump und Vizepräsident Vance?
Es ist grundsätzlich positiv, dass die amerikanische Führungsebene mit am Tisch sitzt. Bereits in der vergangenen Woche gab es Gespräche auf Beraterebene, bei denen die USA ebenfalls vertreten waren. Das Verhältnis ist derzeit etwas stabiler - unter anderem, weil Merz einen guten Draht zu Trump hat. Auch die Streitigkeiten über Zölle sind weitgehend beigelegt. Zudem haben sich die Europäer bereit erklärt, US-Waffen für die Ukraine mitzufinanzieren. Die Gesprächsbasis ist also besser geworden. Trotzdem wird Trump sich nicht von den Europäern vorschreiben lassen, was er in Alaska tun soll. Er wird nach seiner eigenen Einschätzung handeln.
Was erhofft sich Merz von einem Treffen mit Trump?
Merz möchte aus meiner Sicht erreichen, dass man sich untereinander abstimmt, falls in Alaska kein Waffenstillstand zustande kommt. Es geht um die Frage: Wie kann man Putin weiterhin unter Druck setzen? Was sind die nächsten Schritte, und wie kann man diese europäisch koordinieren? Dieses Argument wäre deutlich glaubwürdiger, wenn Europa eigene Vorschläge auf den Tisch legen würde - statt nur Trump um Unterstützung zu bitten. Meiner Einschätzung nach geht es vor allem darum, die Zeit nach dem Alaska-Gipfel vorzubereiten, weniger um kurzfristigen Druck in den verbleibenden zwei Tagen.
Was müssen die Europäer den USA unbedingt deutlich machen? Was ist entscheidend?
Ehrlich gesagt: Die Europäer sind derzeit nicht in der Position, den Amerikanern etwas "zwingend" klarzumachen. Wären sie es, säßen sie in Alaska mit am Tisch - oder würden selbst mit Putin verhandeln. So können sie bestenfalls ihre Bitten und Positionen äußern. Sie können sagen, was sie bereit sind zu tun oder nicht zu tun. Doch sie müssen auch Antworten liefern: Wie sollen europäische Truppen einen möglichen Waffenstillstand überwachen? Wer garantiert die Sicherheit der Ukraine? Es kann ja nicht sein, dass auf einem europäischen Gipfel am Ende steht: "Trump, bitte verhandle du mit Putin für uns. Bitte sichere du den Waffenstillstand. Mach du das schon - für Europa." Wenn das der Ansatz bleibt, ist das Scheitern programmiert.
Mit Nico Lange sprachen Clara Pfeffer und Luca Stark
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