Der Kanzler scheine eine Arbeitsteilung zu bevorzugen, bei der er selbst für die großen Linien zuständig ist, insbesondere für die Außenpolitik. "Das Kleingedruckte" überlasse er dagegen anderen, sagt der Politologe Wolfgang Schroeder im Interview mit ntv.de. Genau dort würden jedoch die Probleme liegen. Um Differenzen in der Koalition auszuräumen, müssten Union und SPD lernen, "an welchen Punkten sie Konflikte aufmachen wollen und wann es klüger ist, kompromissfähig zu sein".
ntv.de: Herr Professor Schroeder, die Union rutscht in den Beliebtheitswerten weiter ab. Im aktuellen RTL/ntv-Trendbarometer liegt sie bei nur noch 24 Prozent und damit zwei Prozentpunkte hinter der AfD. Woran liegt das?
Wolfgang Schroeder: Naja, es gibt Unklarheiten innerhalb der Union über den Kurs, es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen dem Bundeskanzler und der Fraktion, es gibt Turbulenzen innerhalb der Fraktion. Zu berücksichtigen ist aber auch der Sündenfall aus Sicht eines Teils der Unionsanhängerschaft, dass man versprochen hat, die Schuldenbremse nicht zu reformieren, und sie dann am nächsten Tag zur Disposition gestellt hat. Man hat in der Frage der Gaza-Politik keinen klaren Kurs. Man hat in der Frage der Richterwahl Turbulenzen erzeugt, die den Eindruck vermittelten, da ist keine Führung vorhanden. Das zusammengenommen gibt ein inkonsistentes, wackeliges Bild.
Das heißt, der interne Streit der Union schlägt sich auf die Beliebtheit in der Bevölkerung nieder?
Das ist zu einfach. Es gibt einerseits die Spannungen, Unzufriedenheiten und Führungsschwächen in der Union. Dazu kommt die Tatsache, dass Versprochenes gebrochen wurde. Man muss allerdings berücksichtigen, dass die Verhältnisse so sind, dass man schnelle Veränderungen nicht so einfach bewirken kann. Vor allem, wenn man selbst nur bedingt Einfluss nehmen kann auf deren Erfolg.
Was genau meinen Sie damit?
Ein Beispiel ist die Wirtschaftspolitik. Die Regierung hat richtige Entscheidungen getroffen. Sie hat Investitionsinitiativen in Gang gesetzt, Steuersenkungen für Unternehmen beschlossen. Aber gleichzeitig ist durch Trumps Zollpolitik und durch die geopolitische Lage die Wirkung dieser Maßnahmen ein Stück weit verpufft. Das, was in der Wirtschafts- und Steuerpolitik richtig gemacht wurde, kommt stimmungsmäßig gar nicht zum Tragen, weil es überlagert wird von negativen internen und externen Entwicklungen. Übrigens erlebt die Union auch, dass ihre Kritik an der Ampel-Regierung überbordend war und dass auch eine von ihr geführte Regierung vor ähnlichen Problemen steht.
Dann sind Trump und Putin schuld?
Auch das wäre zu einfach. Es hängt durchaus auch mit dem Führungsstil des Kanzlers zusammen. Er scheint eine Arbeitsteilung zu präferieren, bei der er selbst für die großen Linien zuständig ist, insbesondere für die Außenpolitik, und Kanzleramtsminister Thorsten Frei, Unionsfraktionschef Jens Spahn und Vizekanzler Lars Klingbeil für das Kleingedruckte zuständig sind, vor allem für die Innenpolitik. Wenn man aber die Entwicklungen und Konflikte der letzten Monate sieht, kann man feststellen, dass diese Regierung vor allen Dingen über das Kleingedruckte stolpert, weniger über die großen Linien.
Die Entscheidung des Kanzlers, die Rüstungslieferungen an Israel einzuschränken, wurden in einem internen Papier unter anderem mit der Tatsache begründet, dass der Kurs Israels in Gaza zu gesellschaftlichen Konflikten in Deutschland führe. Ein Unionsabgeordneter sagte dazu dem "Stern", Merz mache es wie Merkel: Er stoße die eigene Partei vor den Kopf, gewinne dafür aber in der Bevölkerung an Beliebtheit.
Das sind Totschlagargumente, zu sagen, das sei wie bei Merkel, oder der Kanzler schaue nur auf die Umfragen. Ein Bundeskanzler wird nicht einfach ein Parteiprogramm administrieren können. Ein Bundeskanzler muss den gegebenen Herausforderungen und veränderten Bedingungen Rechnung tragen. Ich denke, es war eine weise Entscheidung, weil sie deutlich macht: Deutschland ist nach wie vor an der Seite Israels, aber diese Solidarität hat auch Grenzen in der Gefährdungslage, die durch ein bestimmtes Handeln der israelischen Regierung entsteht. Das ist verantwortlich, was Merz da gemacht hat.
Diesen Donnerstag ist die Regierung 100 Tage im Amt. Welche Bilanz lässt sich ziehen?
Die Koalition ist unter schwierigen Bedingungen gestartet, die teilweise selbst verantwortet sind, teilweise durch externe Bedingungen verursacht wurden. Die Entscheidungen, die sie bislang getroffen haben, geben Anlass zur Hoffnung. Nämlich vor allen Dingen für die Wirtschaft, für die Beschäftigung, für die Grundorientierung der bundesdeutschen Gesellschaft. Die mentale Aufstellung, die die Regierung und insbesondere die Fraktionen haben, gibt allerdings eher Anlass zur Skepsis. Diese Ungereimtheiten in der Koalition, insbesondere zwischen den beiden Fraktionen, lassen nichts Gutes erwarten, weil sich gegenwärtig zeigt, dass die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, nicht sehr ausgeprägt ist.
Das zeigte sich besonders bei der gescheiterten Verfassungsrichterwahl. Wie sehr hat die Tatsache, dass Union und SPD nicht geschlossen hinter der Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf standen, das gegenseitige Vertrauen beschädigt?
Das Vertrauen innerhalb der Koalition muss erst erarbeitet werden. Mit den Ereignissen um die Richterwahl ist es eher belastet worden. Also kein Vertrauensaufbau, sondern Vertrauensabbau, den wir da erlebt haben. Das ist für die weiteren Aufgaben nicht gut. Trotz der wirtschaftlichen Stimulierung ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir in eine schwierige Situation in der sozialstaatlichen Dimension hineinlaufen, nicht ganz gering. Da braucht man ein wechselseitiges Vertrauen, um eine gute Politik zu gewährleisten, nicht eine, die am Ende nur auf Konfrontation zwischen den Koalitionspartnern hinausläuft.
Inwieweit ist die gescheiterte Richterwahl ein Zeichen dafür, dass die Koalition auch in zukünftigen Belangen nicht einigungsfähig sein wird?
Ich würde davor warnen, das überzubewerten, was passiert ist. Das führt nicht weiter, aber die Parteien können aus diesem Vorgang auch lernen. Das Lernen müsste darin bestehen, dass man mehr an Arbeit investieren muss, um ein gemeinsames Verständnis der Lage zu ermöglichen. Das heißt nicht einfach, auf Konflikte zu verzichten. Aber die Beteiligten müssen wissen, an welchen Punkten sie Konflikte aufmachen wollen und wann es klüger ist, kompromissfähig zu sein. Kompromissfähigkeit kann durch Konflikte entwickelt werden, denn man braucht für die Bürgerinnen und Bürger auch die Nachvollziehbarkeit der Unterschiedlichkeit zwischen den beiden Parteien. Der Konflikt um die Richterwahl war einer, der im soziokulturellen Bereich angesiedelt ist. Und bei solchen Konflikten ist es schwieriger, Kompromisse zu schließen. Deshalb sollte die Koalition versuchen, diese Konflikte zu vermeiden und sich stattdessen auf Konfliktpunkte im sozioökonomischen Bereich zu konzentrieren. Sie müsste über Rente, Bürgergeld oder Gesundheitsreformen streiten. Aber am Ende müssen sie kompromissfähig sein.
Das soll also heißen, ein Thema wie Abtreibung, das die kulturelle Einstellung von Menschen betrifft, soll nicht öffentlich ausgetragen werden?
Das ist toxisch für eine Koalition. Man muss versuchen, es frühzeitig zu klären. Es ist auch gut klärbar, weil wir hier Positionen über das Grundgesetz haben, die eine stark konsensuale Handlungsweise ermöglichen. Soziokulturelle Konflikte zahlen bei der Union nicht ein, denn die maximale Position in diesem Bereich hat in der Regel die AfD. Insofern zahlen sie auch dort ein. Das haben wir im Migrationskonflikt Ende Januar im Bundestag gesehen, wo Merz durch sein unvernünftiges Verhalten für seine Koalition vermutlich zwischen drei und fünf Prozentpunkten eingebüßt hat. Das bedeutet 20 bis 30 Mandatsträger weniger, als eigentlich seitens der Union im Bundestag sitzen könnten.
Um die Konfliktdynamik zu verstehen, muss man sich die Fraktionen anschauen. Bei der Unionsfraktion sind viele Neulinge. Bei den Neulingen ist immer die Frage, wie loyal sie sind. Das wissen wir noch nicht genau. Es gibt aber ein paar Hinweise, dass da durchaus mehr politische Unternehmer am Werk sind, als es für die Handlungsfähigkeit einer Fraktion gut ist.
Politische Unternehmer?
Abgeordnete, die auf eigene Rechnung arbeiten. Die sagen, ich bin direkt gewählt, habe eine bestimmte Vorstellung der politischen Ordnung und werde auch an einzelnen Punkten deutlich machen, dass ich mich nicht so einfach in die Fraktionsdisziplin einnorden lasse. Aber auch das ist begrenzt und muss bei guter Führung kaum zum Tragen kommen.
Mit Wolfgang Schroeder sprach Aylin Geweniger
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