Während die Welt gespannt auf das Treffen von US-Präsident Donald Trump mit Russlands Präsident Wladimir Putin am Freitag in Alaska wartet, deutet derzeit nichts darauf hin, dass Russland tatsächlich bereit ist die Kampfhandlungen einzustellen. Unter Bezug auf Berichte des ukrainischen Geheimdienstes und des Militärs sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Montag, dass es „keine Hinweise darauf gibt, dass die Russen Signale bekommen haben, sich auf eine Phase nach dem Krieg einzustellen. Im Gegenteil, sie gruppieren ihre Truppen und Streitkräfte in einer Weise, die darauf hindeutet, dass sie sich auf neue offensive Operationen vorbereiten“, so Selenskyj.
Tatsächlich scheinen die Russen ihre Angriffe in diesen Tagen zu intensivieren, um ihre Verhandlungsposition für die Verhandlungen mit Trump über einen möglichen „Gebietstausch“ zu stärken.
Besonders schwierig sei die Situation derzeit in der Nähe von Dobropillja im Nordwesten der seit 17 Monaten hart umkämpften Stadt Pokrowsk, sagte Selenskyj. Dort seien kleine, nicht von gepanzerten Fahrzeugen unterstützte Einheiten bis zu zehn Kilometer tief in die ukrainischen Linien eingedrungen. Laut ukrainischen und russischen Quellen handelt es sich dabei um zahlenmäßig begrenzte Sabotage- und Spähtrupps.
„Das russische Eindringen bei Dobropillja ist ein tieferer und schnellerer taktischer Vorstoß als die, die die russischen Kräfte in der jüngsten Vergangenheit erzielt haben“, heißt es im aktuellen Frontbericht des Institute for the Study of War, „aber Russlands Fähigkeiten, diese taktischen Vorstöße in naher Zukunft zu einem Durchbruch auf operationeller Ebene reifen zu lassen, sind nicht gesichert.“
Auch die üblicherweise eher hurrapatriotischen russischen Militärblogger sind skeptisch, ob es gelingen kann, die Infiltrationen abzusichern und die erreichten Positionen zu festigen. Die Infiltrationseinheiten seien isoliert und sehr exponiert und drohten ohne weitere Unterstützung aufgerieben zu werden.
Der ukrainische Generalstab hat inzwischen angekündigt, zur Verteidigung weitere Kräfte und Gerät in die Region zu verlegen. Darunter sollen sich etwa auch die Elite-Kämpfer des Asow-Bataillons befinden, die am Anfang des Krieges hartnäckig das belagerte Mariupol verteidigt hatten.
In den vergangenen 17 Monaten sind die Russen etwa 55 Kilometer um die Stadt Pokrowsk vorgedrungen, mussten dabei aber enorm hohe Verluste an Personal und gepanzerten Fahrzeugen in Kauf nehmen. „Die russischen Streitkräfte haben seit Sommer 2024 über fünf Divisionen an gepanzerten Fahrzeugen und Panzern im Bezirk Pokrowsk verloren“, schreibt das ISW.
Vorbereitungen auf den „Gebietstausch“
Russland will mit seinen Last-Minute-Versuchen, mehr Territorium einzunehmen, seine eigene Verhandlungsposition stärken. Wenn Wladimir Putin am Freitag in Alaska auf Donald Trump trifft, soll es um einen „Gebietstausch“ gehen. Das stellte Trump am Dienstag in Aussicht. Selenskyj dagegen hat ausgeschlossen, für ein Ende der Kämpfe Gebiete an Russland abzutreten. Trump kritisierte Selenskyj am Montag dafür, für eine Friedenslösung keine Gebiete an Russland abgeben zu wollen. Selenskyjs Haltung in dieser Frage habe ihn „ein bisschen gestört“, sagte der US-Präsident. „Denn es wird irgendeinen Gebietstausch geben.“
Russland übt seit vielen Monaten Druck an der ganzen Frontlinie von der Region Saporischschja im Süden bis zur russisch-ukrainischen Grenze im Norden aus. Viele der russischen Angriffe können von den Ukrainern zurückgeschlagen und begrenzt werden, auch wenn die Russen unter hohen Verlusten ständig etwas Boden gut machen. Laut Präsident Selenskyj sei der Trend derzeit, dass Russland dreimal so hohe Verluste habe wie die Ukraine, auf jeden getöteten oder verwundeten Ukrainer kämen drei Russen. Die stetigen russischen Fortschritte an der Front haben also einen hohen Preis. Nur in der Region Sumy scheint es den Ukrainern derzeit zu gelingen, die Russen erfolgreich zurückzudrängen.
Dem Kreml ist vor allem daran gelegen, die Ukraine und den Westen zu demoralisieren. „Putin versucht den Eindruck zu erwecken, als sei die russische Eroberung der Oblaste von Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson unausweichlich, um die Ukraine und den Westen zu drängen, den Forderungen des Kreml nachzugeben“, so die Experten des ISW. Dabei sei die russische Besatzung der vier Oblaste „weder unausweichlich noch steht sie unmittelbar bevor“. Die Russen stünden vor erheblichen operationellen Herausforderungen, wenn sie diese Ziele erreichen wollten. In Donezk etwa könnte es viele Jahre dauern, bis die Russen in der Lage seien, den ganzen Oblast zu besetzen.
Bei Trump scheint die russische Taktik, nämlich einen russischen Sieg als unausweichlich dastehen zu lassen, jedoch schon Erfolg zu haben. „Die Sicht des Präsidenten ist, dass Russland gewinnen wird, es ist nur eine Frage, wie lange das dauern wird“, zitiert „Politico“ vor einigen Tagen einen führenden Offiziellen des Weißen Hauses. Wenn der US-Präsident so weiter macht, Russland ständig entgegenzukommen, könnte das zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden.
Clemens Wergin ist seit 2020 Chefkorrespondent Außenpolitik von WELT. Er berichtet vorwiegend über den Ukraine-Krieg, den Nahen Osten und die USA.
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