Nach den Nachrichten im Juni, dass Freiheitskämpfer Joshua Wong von den Behörden in Hongkong erneut angeklagt wird, wollte ich ihm, meinem Mitstreiter und Freund, einen Brief schreiben. Aber ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte. Offen gesagt war ich wütend. Machtlos und frustriert. Es fühlte sich an, als hätten wir so viel getan, und doch hat sich im Grunde nichts verändert.
Ich habe die Nachricht an befreundete Journalistinnen und Journalisten weitergeleitet, an Freundinnen und Freunde. Alle waren zutiefst bestürzt. Wir haben gepostet, wir haben Kolumnen geschrieben, wir haben Fragen gestellt. Aber Joshua sitzt weiter im Gefängnis. Und so sehr ich auch versuche, mir alles rational zu erklären: Das Schuldgefühl werde ich nicht los.
Es ist nicht diese viel zitierte Überlebensschuld, von der so oft die Rede ist. Es ist eine andere Art. Eine, bei der ich mich ständig frage, warum ich noch nicht stark genug bin. Warum ich nicht mehr Einfluss aufgebaut habe. Warum es mir nicht gelungen ist, mehr Wirkung zu haben. Nur so viel, dass sich die Linie ein Stück verschiebt. Nur so viel, dass ein erster Riss entsteht.
Joshua würde mir nie Vorwürfe machen. Tatsächlich hat er mich immer bestärkt und mir versichert, dass ich genug tue. Trotzdem bleibt das Gefühl, versagt und nicht genug bewegt zu haben. Weder für ihn noch für all jene, die an vorderster Front der Demokratiebewegung in Hongkong standen und den Preis dafür zahlten.
Ja, die Welt von heute ist eine andere als vor fünf Jahren. Die Debatte hat sich verschoben, und viele Begriffe und Perspektiven, für die wir damals belächelt wurden, sind heute selbstverständlich. Ich erinnere mich an einen Moment auf einer Auslandsreise, als Joshua den Begriff „neuer Kalter Krieg“ geprägt hat.
Wir haben versucht, ihn in Interviews zu verwenden, aber niemand hat ihn aufgegriffen. Heute ist er überall gegenwärtig. Manchmal möchte ich schreien: „Ihr solltet euch bei ihnen entschuldigen!“ Und halb im Scherz sage ich manchmal zu Freundinnen und Freunden, wir sollten einen Pulli mit „Wir haben’s euch gesagt“ bedrucken. Den können wir tragen, während der Rest der Welt endlich aufholt.
Aber hinter dem Sarkasmus stecken echte Erschöpfung, Frustration und Trauer. Es tut noch immer weh. Denn dieser Wandel hätte früher kommen müssen. Diejenigen, die uns damals als alarmistisch abgetan haben, wiederholen heute genau dieselben Argumente – als hätten sie sie gerade erst selbst entdeckt.
Das hier sollte eigentlich kein negativer Text werden, aber hier sind wir nun. Ich denke auch oft an Joshuas Texte aus dem Gefängnis. Wie klar, scharfsinnig und widerstandsfähig er ist. Seine Analysen und sein Gespür stimmen mit meinen überein, obwohl wir durch Gefängnismauern getrennt sind. So eine Klarheit unter derartigen Bedingungen ist alles andere als selbstverständlich.
Ich kann nichts sagen, was die Situation verbessern würde – weder für ihn noch für mich. Ich hoffe, er weiß, dass all seine Gefühle von Verwirrung über Angst und Trauer bis hin zu Schuld normal sind. Jeder Mensch würde sich unter den unmenschlichen Bedingungen der politischen Haft so fühlen. Er darf nicht zu hart mit sich sein.
Am Freitag ist Joshua erneut vor Gericht erschienen. Der Richter entschied, dass sein Fall bis zum 5. September vertagt wird, bevor er vom Amtsgericht an das Oberste Gericht weitergeleitet wird. Im schlimmsten Fall droht im lebenslange Haft.
Er ist so mutig. Obwohl er zeitweise ängstlich, traurig und unsicher war, hat er sich trotzdem dafür entschieden, das Richtige zu tun. Oft widerwillig und auch, wenn es weh tat. Aber er hat sich immer wieder bewusst dafür entschieden. Wir schulden ihm mehr als nur Dank. Wir schulden ihm eine bessere Welt. Und das Mindeste, was wir tun können, ist, ihn nicht zu vergessen.
Glacier Kwong schreibt diese Kolumne im Wechsel mit Joshua Wong. Die beiden jungen Aktivisten aus Hongkong kämpfen gegen den wachsenden Einfluss Chinas in ihrer Heimat. Da Wong derzeit inhaftiert ist, setzt Kwong diese Kolumne einstweilen allein fort.
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