Bilder und Videos in sozialen Netzwerken säen Zweifel an der humanitären Lage im Gazastreifen. Auch die israelische Regierung bestreitet eine Hungersnot - und setzt auf Youtube-Werbung.
Pistazieneis, Pizza oder Pfannkuchen mit Schokolade: Im Gazastreifen scheint es an nichts zu mangeln. Zumindest will ein Youtube-Video diesen Eindruck vermitteln. Der Titel: "Top 5 Restaurants in Gaza (Genozid hat noch nie so gut geschmeckt)". Im Stil eines Foodbloggers und mit süffisantem Unterton stellt ein Youtuber Cafés und Restaurants vor, die anscheinend auch nach 22 Monaten Krieg über eine üppige Speisekarte verfügen und gut besucht sind.
Das Video erschien auf dem Kanal "Travelisrael.com", der mehr als 400.000 Follower hat. Er wird betrieben von Oren Cahanovitc, einem israelischen Tourguide, der mit Reisetipps angefangen hat, seit dem Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 aber vor allem politische Inhalte veröffentlicht. Seine Videos heißen "Free Palestine – Nein, danke" oder "Das Westjordanland gehört zu Israel" und erzielen teils mehrere Hunderttausend Aufrufe.
Seit Beginn des Krieges im Gazastreifen tobt auch eine Schlacht um die Deutungshoheit, ausgetragen mit Verkürzungen, Fakes und Desinformation. Mit den Berichten über eine Hungerkrise hat dieser Kampf ein neues Ausmaß erreicht. "Es gibt keine Hungersnot in Gaza, keine Politik der Aushungerung in Gaza", sagte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu.
"So sieht keine Hungersnot aus"
Vermeintlich gestützt werden solche Aussagen von Accounts in den sozialen Medien, die eine Hungersnot in Gaza herunterspielen, leugnen oder als von der Terrorgruppe Hamas inszeniert darstellen. Auch der Youtuber Cahanovitc nimmt die Existenz von geöffneten Restaurants in Gaza als Gegenbeweis. "So sieht keine Hungersnot aus", sagt er in dem Video. In der Tat wirken die Bilder und Videos irritierend im Vergleich zu den bekannten Aufnahmen von verzweifelten Palästinensern, zumal sie von den Instagram-Accounts der Restaurants stammen.
Thailandi Gaza etwa, trotz des Namens laut Profilbeschreibung ein arabisches Restaurant in Gaza-Stadt, postet bis heute regelmäßig Bilder von Süßspeisen und anderem Essen, aber auch von der Massenzubereitung von Nahrung. Das ntv-Verifizierungsteam hält den Account für authentisch, betont aber, dass daraus keine Perspektive auf die humanitäre Lage in Gaza allgemein abgeleitet werden kann.
Der britische "Guardian" hat mit Salah Ahmad gesprochen, Mitgründer der Organisation HopeHub, die Co-Working-Spaces im Gazastreifen bereitstellt. Seiner Aussage nach sind noch eine kleine Zahl von Cafés in Gaza-Stadt geöffnet, die jedoch aufgrund explodierender Preise und Zutatenknappheit nur stark eingeschränkt arbeiten könnten. "Wenn man ein kleines Café sieht, das Getränke oder Kuchen zu hohen Preisen verkauft, spiegelt das nicht die Realität der meisten Menschen in Gaza wider", sagte Ahmad der Zeitung. "Oft handelt es sich nur um kleine Geschäfte. Die Besitzer versuchen einfach, zu überleben und ihre Familien in Würde zu ernähren."
"Menschen versuchen, zu überleben"
Ahmad zufolge hat eines der fünf Cafés im Video derzeit geschlossen, weil die Zutaten ausgegangen seien. Ein anderes habe kürzlich wiedereröffnet, nachdem es wegen fehlender Vorräte wochenlang geschlossen war, und ein weiteres verkaufe keine Lebensmittel mehr. Zudem könnten die Postings zum Teil auch zu einem früheren Zeitpunkt aufgenommen worden sein.
Auch seien die wenigen geöffneten Cafés offensichtlich nicht in der Lage, die gesamte Bevölkerung Gazas zu versorgen, sagte Ahmad. "Die meisten Menschen in Gaza sind derzeit arm und versuchen zu überleben." Diejenigen, die die Cafés besuchen, könnten ihm zufolge Angestellte sein, die noch Gehälter von internationalen Organisationen beziehen, oder Journalisten.
Ebenfalls in den sozialen Medien kursiert ein Video, das einen Gemüsestand auf dem Al-Sahaba-Markt in Gaza-Stadt zeigt und von einigen Kommentatoren als Argument gegen eine Hungersnot verwendet wird. Die Aufnahmen sind nach Einschätzung des Verifizierungsteams von ntv wahrscheinlich vom 28. Juli, also relativ aktuell. Sie stammen demnach vom Journalisten Majdi Fathi.
Der Deutschen Welle bestätigte Fathi, dass das Filmmaterial von ihm ist und den Markt in Gaza-Stadt zeigt. Dies bedeute aber nicht, dass Lebensmittel für alle verfügbar seien. "Dieses Obst und Gemüse ist sehr teuer", sagte Fathi. "Die Mehrheit der Menschen in Gaza kann es sich nicht leisten." Andere Lebensmittel wie Fleisch, Milch, Reis und Eier habe er auf dem Markt nicht gesehen. Auch weitere Social-Media-Accounts aus Gaza berichten von extrem hohen Lebensmittelpreisen. In einem Tiktok-Video, das vom ntv-Verifizierungsteam als authentisch eingestuft wird, fragt ein Junge an einem Obststand nach den Preisen. Die Antwort: Zitronen 50 US-Dollar pro Kilo, eine Mango 20 US-Dollar.
Bilder von der Hamas inszeniert?
Während Aufnahmen von Nahrungsmitteln als vermeintlicher Beleg für eine vorhandene Versorgung genutzt werden, wird Bildern Hunger leidender Menschen in Gaza mitunter die Aussagekraft abgesprochen. Der oft vorgebrachte Vorwurf: Diese Bilder seien von der Hamas inszeniert. Für Diskussionen sorgte etwa die Aufnahme eines 18 Monate alten Jungen, der zwar abgemagert ist, zugleich aber auch an Vorerkrankungen leidet. Ein Umstand, den manche Medien bei der Nutzung des Bildes nicht deutlich gekennzeichnet hatten.
"Die Hamas weiß genau, wie mächtig Bilder sind. Die inszenieren mit Sicherheit viel und das auch in einem Ausmaß, das weit über den Fall des Jungen hinausgeht", sagte Christopher Resch, Referent für den Nahen Osten bei Reporter ohne Grenzen, im Gespräch mit ntv.de. Dennoch könne man daraus nicht schließen, dass Bildern aus Gaza grundsätzlich nicht zu trauen sei. Denn das Kind leide eben auch an Mangelernährung. "In erster Linie sieht man also ein Kind, dem es ohne diesen brutalen Krieg, in einer besseren Versorgungslage, nicht so schrecklich gehen würde." Überdies gebe es viele weitere Aufnahmen hungernder Menschen.
Das israelische Außenministerium hingegen greift die Debatte in einem Video auf, ohne die Unterernährung des Jungen zu erwähnen, und spricht ausschließlich von einer "seltenen genetischen Erkrankung". Sie wirft darin der "New York Times" und weiteren Medien "Fake News" vor. Das Video endet mit den Worten. "Hört auf, Hamas-Propaganda zu verbreiten".
Werbeclips auf Youtube
Das Außenministerium hat auf Youtube Dutzende Videos in ähnlicher Aufmachung veröffentlicht. Kurze Clips, in zahlreichen Sprachen produziert, darunter auch auf Deutsch. Sie tauchen auch vor anderen, ganz gewöhnlichen Videos als Werbung auf. Laut der "Zeit" schaltete das Ministerium allein auf Youtube Deutschland bislang bis zu 200 Werbeanzeigen.
In einem Clip des israelischen Außenministeriums wird behauptet, die UN weigere sich, Hilfslieferungen zu verteilen und begehe "vorsätzliche Sabotage". UN-Angaben widersprechen dem klar: Israel erschwere die Einfuhr von Hilfsgütern massiv. Ein anderes Video nennt die Verteilung über die umstrittene Gaza Humanitarian Foundation "organisiert, sicher und verantwortlich". Dagegen wurden der UN zufolge seit Mai im Zusammenhang mit der Verteilung an den vier Ausgabestandorten mehr als tausend Menschen getötet.
Vor einer Woche veröffentlichte der Kanal ein Video, dessen englischsprachige Version allein 3,5 Millionen Aufrufe hat und in dem eine KI-Stimme sagt: "Tag und Nacht ermöglicht Israel Essen, Medizin und mehr ohne Limitierung, von Babynahrung bis Antibiotika." Es handele sich um eine "der größten humanitären Operationen in der Welt". Bebildert ist der Clip mit lachenden Kindern. Eines der neuesten Videos des Außenministeriums zeigt die von der Hamas veröffentlichten Bilder der stark abgemagerten Geisel Evjatar David. Der Titel: "Die wahre Hungersnot".
Aussage gegen Aussage?
Erwiesenermaßen betreibt auch die Hamas massiv Propaganda. Es wäre jedoch ein Fehlschluss, zu sagen, im Gaza-Krieg stünde Aussage gegen Aussage, sodass es von außen nicht möglich ist, Fakten zu ermitteln. Fakt ist: Die Werbeclips des Außenministeriums stehen den Angaben zahlreicher internationaler Organisationen entgegen.
Der WHO zufolge ist mittlerweile eines von fünf Kindern im Gazastreifen unterernährt. Von den 74 Todesfällen seit Jahresbeginn, die auf Unterernährung zurückzuführen sind, wurden 63 allein im Juli registriert, darunter 24 Kinder im Alter von unter fünf Jahren. Die WHO wirft Israel vor, die Krise durch die "absichtliche Blockierung und Verzögerung umfangreicher Nahrungsmittel-, Gesundheits- und humanitärer Hilfe" herbeigeführt zu haben.
Laut der in Krisenregionen weltweit zum Einsatz kommenden IPC-Skala gilt für den gesamten Gazastreifen die Stufe vier von fünf. Das bedeutet, dass viele Haushalte nicht genug zu essen haben. Dies schlage sich in akuter Unterernährung und überhöhter Sterblichkeit nieder. Derzeit entwickele sich "das schlimmste Szenario einer Hungersnot", teilte die Organisation vor einer Woche mit. In Teilen des Gazastreifens erfüllen sich demnach bereits die Kriterien für Stufe 5, die katastrophale Lage.
Formell hat die IPC noch keine Hungersnot für den gesamten Gazastreifen erklärt. Dazu fehlten noch Daten, die wegen des fehlenden Zugangs in den Küstenstreifen schwer zu bekommen sind, etwa zur Sterblichkeit. Inzwischen lässt Israel auch wieder mehr internationale Hilfen in den Gazastreifen. Dennoch belegen die Angaben internationaler Organisationen sowie Augenzeugenberichte: viele Menschen in Gaza hungern.
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