Wenn Joshua Wong am Freitag in einem Gefangenentransporter vor einem Hongkonger Gericht vorgefahren wird – einem der berüchtigten Gerichte für Verfahren gegen Regimekritiker –, wird er bereits mehr als 1700 Tage hinter Gittern verbracht haben. Die Richter können dafür sorgen, dass es noch viele Jahre mehr werden – vielleicht sogar lebenslang.

Am 6. Juni war der bekannte Demokratieaktivist erneut unter dem berüchtigten „Nationalen Sicherheitsgesetz“ angeklagt worden. Seit Ende 2020 ist er bereits unter Anwendung des gleichen Gesetzes in Haft, mit dem Peking die Demokratiebewegung in der einst so freien Stadt unterdrückt. Nun wird ihm vorgeworfen, gemeinsam mit seinen Mitstreitern im Ausland dazu aufgerufen zu haben, Sanktionen oder Embargos gegen Hongkong und China zu verhängen. Am Freitag soll das Urteil verkündet werden.

„Verschwörung zum Komplott mit ausländischen Kräften“ lautet der Vorwurf. Dieser Straftatbestand ist Teil des Sicherheitsgesetzes, das Peking der Stadt im Juni 2020 übergestülpt hatte, beschlossen vom Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses – dem höchsten Legislativorgan der Volksrepublik China – ohne Beteiligung des Hongkonger Parlaments.

Laut Anklageschrift soll Wong gemeinsam mit dem im Exil lebenden Aktivisten Nathan Law und „weiteren unbekannten Personen“ zwischen Juli und November 2020 versucht haben, ausländische Regierungen oder Organisationen zu Sanktionen und anderen „feindlichen Handlungen“ gegen China und Hongkong zu bewegen.

Konkret geht es darum, dass Wong und seine Mitstreiter nach den Massenprotesten aus dem Jahr 2019 internationalen Druck auf die Behörden forderten – etwa durch Aufrufe an Politiker in den USA oder Europa, gezielte Strafmaßnahmen gegen Entscheidungsträger zu verhängen. Solche Appelle werden im westlichen Verständnis als legitimer politischer Aktivismus gewertet – doch unter dem Sicherheitsgesetz gelten sie als Verbrechen. Das mögliche Strafmaß: lebenslange Haft.

Kolumne für die WELT AM SONNTAG

Der Demokratieaktivist schreibt seit mehreren Jahren gemeinsam mit Glacier Kwong eine Kolumne in der WELT AM SONNTAG über die Lage in Hongkong, ihrer einst so liberalen Heimatstadt, die in den vergangenen Jahren immer stärker unter Druck Pekings geriet.

Seit Wongs Inhaftierung im Jahr 2020 setzt Kwong die Kolumne alleine fort. Sie zeigt darin regelmäßig, dass der Kampf um die Freiheit Hongkongs immer gefährlicher wird – und der Westen China weitgehend gewähren lässt.

Seine erste Verurteilung zu 13,5 Monaten Haft erhielt Wong im Dezember 2020 für die Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration vor dem Polizeihauptquartier 2019. Im November 2024 wurde er unter dem Sicherheitsgesetz zu weiteren vier Jahren und acht Monaten verurteilt – wegen „Verschwörung zur Untergrabung der Staatsgewalt“. Diese Strafe wurde rückwirkend auf den 23. November 2020 angerechnet, den Tag seiner ursprünglichen Inhaftierung.

Hintergrund dieser Verurteilung war seine Beteiligung an sogenannten inoffiziellen Vorwahlen („primaries“) im Jahr 2020. Damals hatten prodemokratische Politiker und Aktivisten – darunter auch er – parteiübergreifend eine Vorwahl organisiert, um bei der anstehenden Parlamentswahl mit einer gemeinsamen Liste eine Mehrheit der Opposition im Legislativrat zu erzielen. Ziel war es, ihr mehr politisches Gewicht zu verschaffen.

Für Wongs Freund Nathan Law ist das mittlerweile dritte Verfahren ein Angriff auf politische Meinungsfreiheit – und ein Versuch, ein Exempel an seinem Mitstreiter zu statuieren. „China nutzt das Nationale Sicherheitsgesetz offensichtlich, um freie Meinungsäußerung in Hongkong zu unterdrücken“, sagt Law im Gespräch mit WELT. „Joshua wurde bereits zu mehr als fünf Jahren verurteilt – die neue Anklage ist eine zusätzliche Strafe, weil er einer der einflussreichsten Aktivisten Hongkongs ist.“

Auffällig ist, wie wenig Widerhall Wongs neuer Prozess international findet. Während noch 2019 Millionen Menschen in westlichen Hauptstädten gegen Pekings Einfluss auf Hongkong protestierten, herrscht heute weitgehend Schweigen. Die britische Regierung – immerhin frühere Kolonialmacht – äußerte sich bislang nicht. Auch aus Berlin, Brüssel oder Washington kamen keine nennenswerten Reaktionen.

„Joshua steht für Demokratie und Freiheit – Werte, auf denen der Westen gebaut ist“, sagt Nathan Law. „Für ihn die Stimme zu erheben, ist eine Form der Verteidigung der Demokratie.“

Doch diese Verteidigung bleibt weitgehend aus – und das ist politisch wie moralisch brisant. Hongkong gilt vielen Regierungen inzwischen als verlorenes Terrain. Peking hat die Stadt faktisch vollständig unter Kontrolle. Gleichzeitig sorgen globale Krisen – Ukraine-Krieg, Nahostkonflikt, Taiwan – für andere Prioritäten. Und schließlich scheuen viele Staaten wirtschaftliche Reibung mit China.

Wong selbst gibt seit Jahren keine Interviews mehr. Er hat nie den Versuch unternommen, seine Strafe zu relativieren oder im Prozess politische Botschaften zu setzen. Das macht seinen Fall umso symbolträchtiger.

Der junge Mann, der einst mit Regenschirm und Megafon Millionen mobilisierte, wird nun zum Mahnmal einer Bewegung, die mundtot gemacht wurde. Sein Schweigen ist ebenso beredt wie die Stille des Westens.

Christina zur Nedden ist China- und Asienkorrespondentin. Seit 2020 berichtet sie im Auftrag von WELT aus Ost- und Südostasien.

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