Zwischen Rentenangst, TikTok-Diplomatie und Krisenhysterie als Dauerwerbesendung. Warum Deutschland ein Comeback der Dichter und Denker braucht. Und das eher mit Cheeseburgern, Nostalgie und Rick Gervais schafft als mit Wokeness-Overload in Offenen Briefen.
Wer in diesen Tagen die Zeitung aufschlägt, Talkshows einschaltet oder ausreichend masochistisch veranlagt ist, aktuelle politische Diskurse via Social Media zu verfolgen, der bekommt unweigerlich suggeriert: Deutschland liegt im konjunkturellen Emergency Room. Haarscharf vor dem industriellen Herzstillstand. Multiples Staatsorganversagen. Nahtoderfahrung für das Bruttoinlandsprodukt. Aber ist das eine zutreffende Statusbeschreibung? Eine Bestandsaufnahme.
Einst galt Deutschland als Paradebeispiel des Aufschwungs. Eine Nation, die sich zum Vorzeigeland für technische, innovative und unternehmerische Exzellenz entwickelte. Ein Land, zu dem die Welt aufsah. Außer natürlich Frankreich. Der Franzose an sich ist von beinahe vulgär stolzer Couleur und hält sich daher traditionell für Weltklasse in ziemlich allem. Etwa 8,2 Milliarden Nichtfranzosen auf der Welt hingegen wissen: Die Realität sieht weniger frankophil aus. Faktenbereinigt geht man heute davon aus, dass Frankreich die Weltspitze nur noch in fünf Dingen anführt: Weichkäse, automobilbereinigte Innenstädte, untreue Staatsoberhäupter, jährlicher Rotweinkonsum und Nationalhelden, die sich in WM-Finalen für Kopfnüsse Rote Karten abholen.
Ohne Fleiß kein Preis - mit allerdings auch nicht mehr
Also: Ist Deutschland mittlerweile zum Notfallpatienten verkommen? Der öffentliche Diskurs jedenfalls sendet vermehrt Notrufsignale: Der Industriestandort Deutschland sei bedroht. Der Wirtschaft gehe es schlecht. Der Mittelstand ächzt. Insolvenzen nehmen zu. Renten sind unsicher. Bürgergeld-Kosten explodieren. Angst vor Altersarmut steigt. Die ehedem große Hoffnung, mit Fleiß und Ausdauer ein angenehmes Auskommen erarbeiten zu können, schwindet erbarmungsloser als die, nach dem Einsatz der Kiss-Cam bei Coldplay-Konzerten Job und Ehe retten zu können.
In den goldenen Siebzigern konnte sich eine normale Familie mit nur einem erwerbstätigen Familienmitglied noch locker Mercedes, regelmäßige Urlaube, schmuckes Eigenheim und gelegentlich Pizza Hawaii beim Italiener um die Ecke leisten. Heute sind Vollzeit arbeitende Doppelverdiener oftmals froh, wenn sie die Kinder zu McDonald's ausführen können. Und selbst da kostet der 1-Euro-Cheeseburger inzwischen 2,69 Euro. Eine Preissteigerung um satte 169 Prozent. Plötzlich 169 Prozent mehr, das gibt es sonst nur bei Gehältern der AfD-Führungsriege.
Inflationsgewinner: Cheeseburger
Cheeseburger sind quasi Bitcoins für Menschen, die virtuellen Geldvermehrungsphänomenen wenig Vertrauen schenken. Hätte man sich nämlich beispielsweise im Jahr 2018 vorausdenkend 40.000 Cheeseburger eingefroren, wären aus 40.000 Euro heute 107.600 Euro geworden. Plakativ manifestiert lautet der klare Vorteil zum Wertpapierhandel: Hätte man 2018 die 40.000 Cheeseburger-Euro lieber in Wirecard-Aktien investiert, wäre man heute pleite. Andererseits: In den Neunzigern konnte man für cheeseburgeroptimierte 107.600 Euro noch 250-Quadratmeter-Wohnungen in Berlin-Mitte kaufen. Heute bekommt man dafür nicht mal mehr einen Tiefgaragenplatz in Neukölln. Okay, nicht weiter tragisch. In Neukölln will wirklich niemand sein Auto parken. Aber jetzt mal rein vermögensstrategisch betrachtet.
Womit die aktuelle Finanzsituation ausreichend skizziert ist. Widmen wir uns also der Frage: Woran liegt es? Spätestens seit im Rahmen der Corona-Pandemie Aktienkurse einschlägiger Aluhut-Produzenten stärker stiegen als der Blutdruck von Alice Weidel bei Fragen nach ihrem Wahlkreis, wissen wir: Fakten sind nicht alles. Entsprechend munter sprießen Begründungs-Stilblüten in die Diskursfauna. Steht man rechts der SPD, ist die vermeintlich bevorstehende Apokalypse ein Gesamtkunstwerk der Grünen, vornehmlich von Robert Habeck und Annalena Baerbock, die den Wirtschaftsstandort Deutschland mit Wärmepumpen und Gendersternchen dem Konjunktursuizid geweiht hätten.
Das Land der Kulturschaffenden und Trittbrettdenker
Steht man auf der anderen Seite, scheint sicher, dass die aktuell landesweit gedämpfte Gemütslage ein Relikt der legendären Aussitz-Politik von Angela Merkel ist. Die 16-Jahre-Kanzlerin hatte mit ihrer "Warten statt Taten"-Philosophie jedenfalls nicht für flächendeckende Totaleuphorie gesorgt. Oder liegt der berühmte (selbstverständlich vegane) Hase ganz woanders im Pfeffer? Orientiert sich die Grundstimmung beim deutschen Michel womöglich gar nicht primär an meinungsstarken Klugscheißertexten selbstverliebter Journalistinnen wie mir, sondern eher an Ergüssen reichweitenstarker Idole aus der Entertainment-Branche?
Einiges spräche dafür. Während der letzten US-Wahl zitterte Donald Trump vor Taylor Swift und ihrer Social-Media-Meinungs-Macht auf 280 Millionen Instagram-Follower. Mal zur Relevanz-Einordnung: Der offizielle Bundeskanzler-Account von Friedrich Merz kommt auf 2,6 Millionen. Da Deutschland aber das Land der Dichter und Denker ist, wäre das doch also eine gute Nachricht, oder? Aktuelle Tendenzen, etwa der von zunächst 200 und nach kurzer kritikatmosphärischer Warteschleife nochmals von 160 weiteren sogenannten Stars unterzeichnete offene Brief zum Nahostkonflikt, zeigen schmerzhaft: Das Land der Dichter und Denker ist inzwischen zum Land der Selektivpazifisten und Trittbrettdenker verwahrlost. Immerhin ist man in der Unterhaltungsblase aber selbstkritisch genug, sich dabei "Kulturschaffende" zu nennen, nicht "Künstler". Picasso war Künstler. Frida Kahlo war Künstlerin. Joko und Klaas sind Moderatoren. Moderatoren, die es sich gemeinsam mit ihrer "israelkritischen" Gratismut-Clique nun nachhaltig mit dem Axel-Springer-Verlag verscherzt haben. Mutig immerhin, das muss man ihnen lassen. Von der "Bild" gehasst zu werden, ist nicht zwangsläufig karrierefördernd in der Unterhaltungsbranche.
Alle lieben Ricky Gervais, aber keiner hört ihm zu
Derartig nicht zu Ende gedachter Sofa-Aktivismus einer Armada semiinformierter Kulturprotagonisten zeigt: Ricky Gervais hatte recht. Gervais sagte 2020 zur Eröffnung der Golden Globes vor einem Auditorium der größten Weltstars der Zeitgeschichte: "Ihr sagt, ihr seid woke. Aber was die Unternehmen, für die ihr arbeitet, in China machen - unglaublich. Apple, Amazon, Disney. Wenn [die Terrormiliz] ISIS einen Streaming-Dienst startet, würdet ihr eure Agenten anrufen! Wenn ihr also heute einen Preis gewinnt, nutzt das hier nicht als Plattform für politische Statements. Ihr seid nicht in der Lage, die Öffentlichkeit über irgendetwas zu belehren. Ihr wisst nichts darüber, wie die wirkliche Welt funktioniert."
Um fair zu bleiben: Es ist ungerecht, den Kulturschaffenden nach der desaströsen deutschen Filmlandschaft nun auch noch Katerstimmung und Politikverdrossenheit in die Designerschuhe schieben zu wollen. Außerdem: Eine Medaille hat stets zwei Seiten. Erkenntnisreicher als die Empörung darüber, wer sich aus symbiotischem Branchenzwang und Desinformationsdilemma zu wenig durchdachten Forderungen an den Kanzler hat durchemotionalisieren lassen, ist die Feststellung: Welche Namen stehen nicht unter diesem haltungssimulierenden Selbstbeweihräucherungspamphlet? Grüße an Matthias Schweighöfer an dieser Stelle.
Lest weniger offene Briefe!
Womit der Schwarze Peter wieder direkt bei der Politik liegt. Vermutlich zu Recht. Da passiert viel Dubioses. Bei den stetigen Flirts der CDU-Bundestagsabgeordneten Saskia Ludwig mit der AfD beispielsweise bin ich inzwischen sogar sicher, es handelt sich um eine Guerilla-Marketing-Aktion der Union, um endlich von Jens Spahn abzulenken. Und auch die SPD steht mit dem Rücken zur Wand, nämlich bei 13 Prozent in Umfragen. 13 Prozent, das hätten Willy Brandt oder Helmut Schmidt sogar noch geholt, wenn die SPD ausschließlich von Rechtshändern hätte gewählt werden dürfen, die rote VW-Passats fahren und eine Cousine namens Hildegard haben, deren Lieblingsessen Erbsensuppe ist. Oder von Kulturschaffenden.
Aber wissen Sie was? Schwamm drüber! Ich kann nicht gegen seichtintellektuelle Kulturschaffende opponieren und gleichzeitig zulassen, dass unser Land als klinisch tot deklariert wird. Mein Appell der Woche lautet daher: Lest weniger offene Briefe. Freut euch lieber, dass wir noch eine funktionierende Demokratie haben. Und mehr als genug Potenzial, als Land der Dichter und Denker ein Comeback zu feiern. Positives Denken ist nämlich nicht nur gut für Influencer, die ihre drittklassigen Esoterik-Bücher verticken wollen. Es stünde uns allen gut zu Gesicht. In diesem Sinne: Die Zukunft wird rosig!
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