Der russische Druck auf die fünf Hotspots im Donbass nimmt zu. Westlich der Städte bauen die Ukrainer jetzt eine "neue Donbass-Linie". Wenn die Russen durchbrechen, müssen sie dort gestoppt werden, erklärt Oberst Reisner ntv.de. Nur, welche Verbände sollen die Linie verteidigen?

ntv.de: Herr Reisner, vergangene Woche beschrieben Sie die Vorstöße der russischen Armee an den fünf Hotspots im Donbass wie Zähne einer Säge. Halten sich die ukrainischen Verteidiger dort noch?

Markus Reisner: Im Raum zwischen Nowopawliwka über Pokrowsk bis Kostjantynivka sowie bei Siwersk und Kupjansk verschärft sich die Lage täglich. Auf diesen Städten lastet durch die russischen Angriffe ein enormer Druck. Alle fünf Hotspots sind entweder von einer Einkesselung bedroht oder befinden sich bereits in einem Kessel. Diese ziehen sich immer mehr zusammen, kleine russische Sturmtrupps sind bereits in Pokrowsk präsent. Insgesamt sieht die Bilanz für die Russen im Juli nochmal besser aus als in den Vormonaten. 713 Quadratkilometer haben die russischen Truppen im vergangenen Monat erobert. Im Juni waren es 588, im Mai 507 und im April nur 379 Quadratkilometer. Das ist ein sehr starker Zuwachs.

Wenn eine dieser Städte fällt, wäre das dann der befürchtete Durchbruch für die Russen, von dem aus sie größeres Gelände hinter der Frontlinie erobern könnten?

Wenn Sie die Lage aller fünf Hotspots auf der Karte anschauen, dann liegt Siwersk sehr exponiert, am weitesten im Osten. Wenn die russischen Truppen Siwersk nun mit einer Art Zangenbewegung umschließen, dann könnte es eine gute Entscheidung sein, die Stellung dort aufzugeben. Mit den Kräften aus Siwersk könnten die Ukrainer dann die beiden Städte westlich davon besser verteidigen - Slowjansk und Kramatorsk. Sie sind die nächsten ukrainischen Festungsstädte.

Aber eine Stadt aufzugeben - das fällt dem Oberkommandeur der Streitkräfte, General Oleksandr Syrskyj, sehr schwer, oder?

Ja, Syrskyjs unnachgiebige Linie wird vor allem auf der untersten Ebene, der taktischen, in den ukrainischen sozialen Medien intensiv diskutiert. Wo ergibt es Sinn, Städte weiter zu halten und zu verteidigen? Und wo sollte man sich besser zurückziehen und die Kräfte der Truppe schonen? Bisher sind die Ukrainer immer vorausschauend aus den Kesseln zurückgegangen - denken Sie an Bachmut oder Awdijiwka. Nur in Mariupol ist es den Russen gelungen, eine große Zahl ukrainischer Soldaten gefangen zu nehmen. Dennoch sind solche Kämpfe natürlich zermürbend. Wenn die Russen in ihren Angriffen Gleitbomben, Angriffsdrohnen und Artillerie miteinander kombinieren, verlieren die Verteidiger viele Soldaten. Wenn sie sich dann schlussendlich zurückziehen, sind sie auch nicht mehr kampfkräftig. Die Ukrainer bereiten sich inzwischen aber auf die Option vor, dass die fünf Bastionen im Raum Donezk fallen. Sie bauen eine neue Donbass-Linie auf, die vierte massive Verteidigungslinie.

Es geht also darum, einen Vormarsch der Russen in die Zentralukraine aufzuhalten, der noch schneller vorankäme als die 713 eroberten Quadratkilometer im Juli? Im Gebiet westlich der fünf Hotspots fehlt es ja an weiteren Städten. Da wären die Invasoren also noch schneller?

Genau, weil die Ukrainer sich auf den freien Ebenen der flachen Ostukraine nicht nachhaltig zur Verteidigung einrichten können. Wenn sie sich radikal zurückzögen, würde das im schlimmsten Fall bedeuten, dass die vier von den Russen beanspruchten Oblaste ihnen in Gänze in die Hände fielen. Wir sehen aber, dass die Ukrainer in günstigen Geländeabschnitten Stützpunkte bauen, die dann noch von Soldaten besetzt werden müssen. Aber bei laufenden Gleitbomben- und Drohnenangriffen wären die natürlich nicht belastbar. Wenn sich also die Front weiter Richtung Westen verschiebt, weil etwa Siwersk fällt, dann nimmt man an, dass die nächste starke Verteidigungslinie die Städte Slowjansk und Kramatorsk miteinschließt. Weil urbane Räume mit Kelleranlagen, Betonfundamenten, Häuserstrukturen ein viel nachhaltigeres Kämpfen erlauben. Entsprechend wäre die vierte Verteidigungslinie keine Linie im engeren Sinne, die durchgehend verläuft, sondern eher ein Gebietsgürtel, der verschiedene Verteidigungszonen umfasst. Das folgende Bild eines pro-ukrainischen Militärbloggers verdeutlicht das Prinzip.

Also ein breiter Verteidigungsgürtel mit Hotspots, von denen aus auch das restliche Gebiet verteidigt wird?

Genau, einige Hotspots kristallisieren sich bereits heraus. Slowjansk und Kramatorsk habe ich erwähnt, dieser Gürtel würde sich in den Südwesten und in den Norden weiterziehen. Allerdings wird es auch von der Dynamik an der Front abhängen, inwieweit die Ukraine dort vorn Kräfte herauslösen kann, oder frische Reserven bilden kann, um die Stellungen in diesen Verteidigungszonen auch zu besetzen.

Dann ist noch gar nicht klar, dass man dafür überhaupt genug Leute hat?

Momentan ist noch nicht erkennbar, wie diese neue Donbass-Linie besetzt werden soll. Folgendes ist bemerkenswert: Einige Verbände der ukrainischen Streitkräfte, die bis jetzt immer wieder prominent an der Front gekämpft haben, sind zurzeit nicht zu verorten. Ihre Lokation, also ihr Aufenthalt, ist nicht erkennbar. Dafür kann es mehrere Erklärungen geben. Zum Beispiel könnten sich diese Verbände darauf vorbereiten, in einer neuen, überraschenden Offensive die Russen abzulenken und ihre Kräfte zu binden.

Nach dem "Modell Kursk" im vergangenen Jahr?

Genau so. Eine andere Erklärung dafür, dass diese Verbände nicht sichtbar sind, könnte die Vorbereitung für das Besetzen dieser neuen Donbass-Linie sein. Das entscheidende ist, dass die Ukrainer ihr Gelände kaum mehr nachhaltig verteidigen können, sondern nur den Vormarsch der Russen verzögern. Bei dieser Art der verzögernden Kampfführung müssen die Kräfte sich abwechseln. Es können nicht dieselben Kräfte, die vorn im Feuer stehen, nach ihrem Rückzug in der Tiefe die Verteidigungsstellungen beziehen. Im schlimmsten Fall könnte es dann nämlich dazu kommen, dass die Russen die Verteidiger auf ihrem Rückzug verfolgen und sie überholen. Dann erreichen die Russen die nächste Linie, bevor die Ukrainer selbst dort eintreffen. Das muss man unbedingt vermeiden.

Die neue Donbass-Linie muss also bereits von anderen Verbänden bezogen sein, wenn sich die Verteidiger vorn zurückfallen lassen.

Ja, und die zurückgehenden Truppen müssen sie nicht nur aufnehmen, sondern auch durch Feuer schützen, um die angreifenden Russen abzufangen. Aber wie gesagt, bisher gibt es keine Indizien dafür, wie die neue Verteidigungslinie besetzt werden soll. Die Ukraine hat aber vorsorglich begonnen, in der Tiefe Stellungen anzulegen. Mehr ist noch nicht zu sehen.

Wenn sich die Truppen, die jetzt noch vorn in diesen fünf Hotspots stehen, zurückziehen: müssen sie das alle gleichzeitig machen? Weil sonst die Russen bei einem aufgegebenen Hotspot vormarschieren und zum Beispiel einen anderen Hotspot dann von hinten angreifen könnten?

Das hängt vom jeweiligen Raum ab, ob die Russen einen Angriff so durchführen könnten. Würde Siwersk fallen, diese Option haben wir ja schon besprochen, dann könnte es sich auch positiv auf die Verteidigungskraft der Nachbarorte auswirken. Würde man Pokrowsk aufgeben, dann könnte man vielleicht auch von der vierten Verteidigungslinie dahinter aus das Gebiet besser verteidigen. Also: Nein, es müssen nicht alle fünf Hotspots zugleich aufgegeben werden.

Wie können wir uns die neue Donbass-Linie vorstellen? Mit Drachenzähnen, Minenfeldern, Schützengräben? Oder ist es gar nicht mehr möglich, eine so starke Verteidigung so schnell aufzubauen?

Hier werden Pioniere der ukrainischen Streitkräfte den Raum zuerst erkundet und dabei festgelegt haben, wo Stellungssysteme gebaut werden. Die Arbeiten werden dann oft an eine zivile Firma übertragen, deren Leistung vom Militär überwacht wird. Ein weiterer Militärblogger beschreibt die neuen Stellungen als T-förmige Systeme, voneinander unabhängig. Auch wenn benachbarte Systeme eingenommen werden, könnten die T-Stellungen noch weiter Widerstand leisten. Ein pro-ukrainischer Militärblogger hat solche Stellungen eingezeichnet:

Grabenanlagen entstehen entlang der Linie, aber auch mehrere Kilometer in die Tiefe der Verteidigungszone hinein.

Dadurch kommt der Gürtel zustande.

Genau. Minenfelder, Stacheldrahtrollen gegen die kleinen Sturmtrupps, mit denen die Russen oft operieren, Drachenzähne und Panzergräben gegen Panzer - das kann alles Teil der Verteidigungszonen sein. Es werden Stellungen ausgegraben und verstärkt, etwa mit Baumstämmen. Eventuell haben sie die Möglichkeit, manche Stellung auch zu betonieren. Ziel ist, dass Offensivpotential der Russen dort zu binden, um Zeit zu gewinnen. Wie gesagt, es geht nicht mehr ums Verteidigen, sondern darum, den Vormarsch der Invasoren zu verzögern.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

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