Im Donbass gelingt es den Russen derzeit, fünf Städte mehr und mehr einzukesseln. Die ukrainischen Verteidiger können nur mit kleinen Lieferungen versorgt werden. Dafür riskieren die Soldaten ihr Leben mehr als im Schützengraben, erklärt Oberst Markus Reisner ntv.de.

ntv.de: Herr Reisner, im Raum Sumy, im nördlichen Frontabschnitt konnten die Ukrainer die russischen Angreifer teilweise erfolgreich zurückdrängen. Wieso gelingt das dort, aber nicht im Donbass, wo die Ukrainer schon so lange so stark unter Druck stehen?

Markus Reisner: Zwar greifen die russischen Truppen entlang der gesamten Front mit unverminderter Heftigkeit an. Aber ihr Ziel im nördlichen und im südlichen Teil des Frontbogens ist es, dort vor allem die ukrainischen Kräfte zu binden, die ukrainischen Truppen also dort zu fixieren. Der Vorstoß Richtung Sumy ist ja aus der erfolgreichen Abwehr des ukrainischen Vorstoßes auf russisches Territorium bei Kursk entstanden. Die Russen haben die Ukrainer damals wieder zurückgedrängt und sind dann weiter auf ukrainisches Gebiet einmarschiert. Sie wollen dort gar nicht bis Sumy vorstoßen, dazu haben ihre Truppen nicht die erforderliche Stärke. Sie sind aber stark genug, um dafür zu sorgen, dass die Ukrainer ihre Truppen aus der Kursk-Offensive dort noch immer nicht abziehen können. Diese ukrainischen Brigaden sind äußerst kampfkräftig, darum gelingen ihnen immer wieder die von Ihnen erwähnten Gegenstöße. Aber gerade die FPV-Drohnen-Einheiten würden dringend im eigentlichen Schwerpunkt der russischen Anstrengungen benötigt. Der liegt nach wie vor im Zentralraum, im Mittelabschnitt der Front, also im Donbass. Dort fehlen diese ukrainischen Kräfte.

Darum können die russischen Truppen dort so kontinuierlich aufmarschieren?

Die ukrainischen Truppen sind dort bereits abgekämpft und sehr ausgedünnt. In den letzten beiden Monaten haben die Russen etwa 15 bis 20 Quadratkilometer pro Tag erobert, punktuell hat sich diese Bilanz sogar in diesem Monat noch gesteigert. Darum erkennt man derzeit auch auf pro-ukranischen Kartenwerken, wie die russischen Angreifer im Moment wie eine Tsunamiwelle auf Pokrowsk zurollen.

Aber Pokrowsk ist nicht der einzige Kessel dort, oder?

Die Russen sind dabei, im Mittelabschnitt von Nord bis Süd insgesamt fünf Städte einzukesseln: Kupjansk, Siwersk, Kostjantynivka, Pokrowsk und Nowopavlika. Sie sind entweder von einer Umschließung bedroht oder befinden sich bereits mitten in einem Kessel. Vor allem nordöstlich von Pokrowsk gewinnen die Russen immer mehr Raum. Die Front hängt hier deutlich über und daraus entsteht für die Verteidiger in der Stadt eine akute Bedrohung, eingeschlossen zu werden. Wenn wir bei der Frontbetrachtung ein bisschen hineinzoomen, erscheinen die russischen Vorstöße wie ein Muster, wie die Zähne einer Säge. All diese Zähne, die aus der Frontlinie hervorspringen, sind Vorstöße der Russen um Ortschaften herum. Das ist ein Grundprinzip, an dem die Russen über die letzten Jahre festgehalten haben: den Gegner aus mehreren Richtungen anzugreifen, von den Flanken, aus der Tiefe, ihn so zu binden und auch zu überfordern. Dazu werden die Versorgungslinien abgeschnitten.

Eine sehr langfristige Taktik, aber die Russen haben ja auch keinen Zeitdruck?

Gefühlt dauert das sehr lang, aber nach zwei, drei, vier Monaten sehen Sie das Ergebnis. Wir schauen auf die Karte und denken: Da tut sich nicht viel. Aber wenn wir den Frontverlauf im Zeitraffer betrachten, allein vom letzten Sommer bis heute, dann wird deutlich, wie groß die russischen Vormärsche tatsächlich sind. Die russischen Geländegewinne summieren sich, die ukrainischen Soldaten werden immer weniger.

Derzeit halten sich die fünf eingekesselten Städte noch. Haben also alle fünf noch mindestens eine Versorgungslinie offen, über die sie Nachschub bekommen und Verwundete abtransportieren können?

Hier ist der Raum einer der entscheidenden Faktoren, beispielsweise kann ein Flusslauf in der Nähe dieser Städte sehr bedeutsam sein. Auf Videos der Frontabschnitte ist erkennbar, wie die Russen versuchen, Brücken über Flüsse in der Nähe zu zerstören. Die sind ein Nadelöhr für die Versorgung, und durch eine zerstörte Brücke kann die Logistik wirksam unterbrochen werden. Bedeutsam sind auch Geländeabschnitte, die sich von der Höhe her unterscheiden. Gelingt es den Russen, im flachen Osten der Ukraine hingegen sogar Höhengelände in Besitz zu nehmen, dann können sie von dort aus sehr viel weiter wirken. Das verschlechtert die Lage in den eingekesselten Städten enorm.

Dann sind dort nur noch wenige Kräfte in den Städten, um diese zu verteidigen?

Die prekäre Versorgungslage lässt nichts anderes zu. Die Kessel beginnen dann langsam, sich zu schließen und schlussendlich kann der Ort nicht mehr gehalten werden. Dazu ist es vielleicht auch gar nicht notwendig, dass der Kessel unmittelbar geschlossen wird. Man spricht von einer "operativen Schließung" des Kessels, wenn es dem Angreifer bereits gelingt, durch weitreichende Waffensysteme die wichtigsten Versorgungsrouten in den Kessel zu beherrschen. Sie wissen ja, die größten Ausfälle auf beiden Seiten entstehen nicht unmittelbar im Gefecht, im Kampf Mann gegen Mann oder Kampfpanzer gegen Stellungssystem. Die meisten Soldaten verliert man bei der Rotation und bei der Versorgung.

Wie genau passiert das?

Die Ukrainer sind oft über Wochen und Monate in kleinen Erdlöchern, Bunkern oder unterirdischen Kellern eingeschlossen, wo sie nur darauf hoffen können, irgendwie versorgt zu werden. Durch Drohnen zum Beispiel oder durch ihre Kameraden, die selbst versuchen, Nachschubgüter zu den bedrängten Stützpunkten oder in den Kessel hineinzubringen. Und natürlich geht es auch darum, Verwundete herauszuholen, um sie medizinisch versorgen zu können. Solche Aktionen sind die verwundbarsten Momente, genau dann greifen die Russen an. Im Gegenzug versuchen natürlich auch die Ukrainer dies zu tun.

Haben die Soldaten denn überhaupt eine realistische Chance, über eine solche Route oder Straße bei ihrem Ziel anzukommen? Im Donbass gibt es ja schon lange das gläserne Gefechtsfeld, das von beiden Seiten vollständig überwacht wird.

Das Lagebild beider Seiten ist nahezu lückenlos, richtig. Darum versucht man gar nicht erst, eine Rotation einmalig mit einer großen Gruppe durchzuführen. Auch nachts nicht. Stattdessen wird das immer dezentral, vereinzelt, in sehr kleinen Gruppen oder Trupps gemacht. Oft vielleicht ein, zwei Soldaten, die sich auf diesen mühevollen Weg machen - an die Front selbst oder von dort zurück. Solange man sich auf den eigenen Beinen bewegen kann, funktioniert das relativ gut, zumindest bis die Drohnen das Grüppchen erkannt haben.

Wie schnell passiert das in der Regel?

Nach zehn bis 15 Minuten. Spätestens.

Und dann haben sie keine Chance mehr? Wenn sie das Summen der Drohne am Himmel hören?

Die Soldaten müssen dann versuchen, sich zu zerstreuen, sich zu tarnen, um nicht getroffen zu werden. Ist einer bereits verletzt oder versucht, einen Verletzten zu transportieren, dann wird es sehr schwierig. In den letzten Wochen hat die Ukraine mehr und mehr unbemannte Systeme eingesetzt, Unmanned Ground Vehicles (UGV), also Landroboter. Die können aus sicherer Entfernung gesteuert werden, über Relaisstationen oder eine andere Drohne, und bewegen sich zu vereinbarten Punkten, etwa mit geladenem Trinkwasser, Essen und ähnlichem. Nach der schnellen Entladung wird ein Verwundeter auf den Roboter gelegt und dann fährt der wieder zurück. Wird der fahrende Roboter aber erkannt, hat der Verletzte kaum Chancen, sich zu schützen. Ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht übrigens, einen Verwundetentransport anzugreifen.

Woher bekommt die Ukraine die Boden-Drohnen?

Die erfolgreichsten Fahrzeuge sind in der Ukraine selbst produziert worden, weil die Ukrainer natürlich im Gefechtsfeld die unmittelbarsten Erfahrungen machen. Robert Brovdi, ist Kommandant einer berühmten ukrainischen Drohneneinheit, sein Pseudonym lautet "Magyar". Vor kurzem hat er vor Vertretern der Nato-Streitkräfte in Deutschland einen Vortrag gehalten. Brovdi wies nachdrücklich darauf hin, dass die westlichen Streitkräfte beginnen müssen, sich mit den Entwicklungen auf dem Schlachtfeld auseinanderzusetzen. Die Ukraine macht täglich die Erfahrung, wie radikal sich das Wesen des Krieges verändert hat. Bei vielen im Westen ist das noch nicht wirklich angekommen.

Darum reden im Westen noch immer so viele von einer Sommer-Offensive? Obwohl die Russen einfach permanent und schon seit dem Winter an allen Frontabschnitten Druck machen?

Der westliche Betrachter verknüpft mit dem Begriff der Offensive eine schnell vorgetragene Bewegung, vor allem von mechanisierten Verbänden, die rasch vorstoßen und schnell Raum gewinnen. So wie wir das vielfach im Nahen Osten gesehen haben - im Irak, in Afghanistan. Aber der Krieg in der Ukraine heute hat einen ganz anderen Charakter. Hier geht es darum, den Gegner abzunutzen, an der Gefechtslinie den Gegner mit 1000 kleinen Nadelstichen zu treffen, bis er zermürbt ist. Das ist die russische Theorie des Sieges. Die Geländegewinne sind klein, die Verluste sind schwer, aber es ist die Möglichkeit, schlussendlich territoriale Erfolge einzufahren. Für uns ist eine derartige Herangehensweise unvorstellbar, für die Russen ein Mittel, um ihre Ziele zu erreichen.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

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