CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hatte seine Gründe, als er den Posten als Bundeswirtschaftsminister im Kabinett nicht übernehmen wollte. Dass das Ministerium in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD um einige Kompetenzen gestutzt wurde, war einer davon, so die Analyse zahlreicher Beobachter.
Statt seiner ist nun Parteifreundin Katherina Reiche im Amt. Und sie hält sich nicht mit verloren gegangenen Kompetenzen auf, sondern setzt die Schwerpunkte ihres Ministerinnen-Amtes selbst neu. Mehrere Maßnahmen, die die Ministerin in diesen Tagen getroffen hat, machen den neuen Fokus ihres Hauses deutlich: Reiche hat die Verteidigungsindustrie für sich entdeckt.
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Derzeit ist die Ministerin auf Sommertour. Über die nächsten Tage besucht sie verschiedene Unternehmen im Land. Zum Auftakt warb sie beim Waffenhersteller Diehl in Röthenbach an der Pegnitz (Bayern) für das neue Beschaffungsgesetz für die Bundeswehr. Weitere Stationen bei Rüstungsunternehmen sind diese Woche eingeplant.
Der Besuch sei sehr „wichtig“, sagte Reiche. Denn „die Verteidigungsindustrie in Deutschland ist lange unterschätzt und nicht genügend beachtet worden“, so die Wirtschaftsministerin vor Ort.
Der CEO von Diehl Defence, Helmut Rauch, zeigte der Wirtschaftsministerin das Flugabwehrsystem Iris-T — etwa 45 Minuten lang sprachen beide auch mit der Eigentümerfamilie Diehl. „Das wird uns gewaltig helfen“, so Rauch beim gemeinsamen Statement mit Reiche.
Diehl sei 2024 um 60 Prozent gewachsen, erzählte Rauch. Reiche lobte: Das Unternehmen habe es geschafft, „innerhalb kürzester Zeit Produktion zu skalieren, zu wachsen, Mitarbeiter zu gewinnen, in neue Technologie zu investieren“.
Deutschlands Aufrüstung läuft rasant. 2024 gab Deutschland noch rund 71 Milliarden Euro aus. Laut der Finanzplanung des Bundes sollen die Ausgaben bis 2029 kontinuierlich bis auf 152,8 Milliarden Euro steigen. Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt steigt von 2,4 Prozent auf die von der Nato beschlossenen 3,5 Prozent.
Hochkarätiger Beraterkreis eingerichtet
Eigentlich ist Verteidigung nicht Teil von Reiches Portfolio. Neben dem Klimaschutz hat ihr Haus auch die Zuständigkeit für die Raumfahrt verloren, doch die Ministerin scheint ein neues Thema gefunden zu haben. Ihr Haus hat zwar neben der Kontrolle der Rüstungsexporte nur das Referat IV D 6, das sich mit dem Thema befasst. Aber: Dieses Verteidigungsreferat soll an Bedeutung gewinnen.
Zusätzlich richtet Reiche einen neuen Beraterkreis für Sicherheits- und Verteidigungsindustrie im Wirtschaftsministerium ein, wie der „Politico“-Pro-Newsletter „Industrie & Handel“ erfuhr. Mitglieder werden Moritz Schularick, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) Kiel, René Obermann, Aufsichtsratsvorsitzender von Airbus, Nico Lange, Senior Fellow bei der Münchner Sicherheitskonferenz, und Generalleutnant a.D. Jürgen-Joachim von Sandrart.
Die Experten sollen das Ministerium beraten, wie ein schneller Hochlauf der Verteidigungsindustrie gelingen kann. Der Fokus liegt auf Hochtechnologie, Raumfahrt, künstlicher Intelligenz, Robotik, Satellitenkommunikation sowie auf weiteren neuen Technologien.
Ein Momentum: Der Rüstungsboom kommt in einer für die deutsche Industrie bedrohlichen Phase. Die Autoindustrie streicht Stellen, Stahl- und Chemieunternehmen verlagern Produktion aus Deutschland weg.
Wie höhere Rüstungsausgaben die Wirtschaft ankurbeln können, hat Schularicks IfW Kiel berechnet. Wenn die EU-Länder ihre Militärausgaben wie von Deutschland geplant auf 3,5 Prozent erhöhen, könnte ihr Bruttoinlandsprodukt um 0,9 bis 1,5 Prozent steigen.
Dafür müssten die Regierungen das Geld aber für modernste Produkte ausgeben. Diese müssten in Europa produziert und nicht nur aus den USA gekauft werden. Mehrausgaben müssten über Schulden finanziert werden, nicht über Steuern oder Kürzungen. Viel Geld müsste in Forschung und Entwicklung fließen.
Auch der Bundesverband der Deutschen Industrie hat zum Thema ein 28-Seiten-Papier vorgelegt. „Geld allein greift zu kurz“, heißt es darin. „Von der Bundesregierung erwarten wir, dass sie den Aufbruch von der Spitze her anstößt, koordiniert und konsequent vorantreibt.“ An dieser Spitze positioniert sich nun auch Wirtschaftsministerin Reiche.
Tom Schmidtgen ist Reporter für Industrie und Handel bei „Politico“.
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