Eine halbe Autostunde von der moldauischen Hauptstadt Chisinau entfernt sitzen Tatjana und Michail im Schatten vor Sandförmchen und Wasserpistolen und blicken auf den Strand. Die beiden sind Ende sechzig und bessern ihre Rente auf, indem sie Badeutensilien an Tagesausflügler verkaufen. Ihren Nachnamen behalten sie lieber für sich.
„Vor etlichen Jahren sind wir hierhergezogen“, erzählt Michail, während er eingeweckte Pflaumen auf eine Weißbrotscheibe häuft. „Uns gefällt es hier. Aber unsere Verwandten machen sich manchmal Sorgen. Weil wir jetzt direkt an der Grenze leben.“
Kinder baden im Wasser des Dnister. Ein unscheinbarer Fluss, für Moldau aber von immenser Bedeutung. Denn am anderen Ufer, keine hundert Meter entfernt, liegt Transnistrien, ein Separatistenstaat, der völkerrechtlich gar nicht existiert.
Als Moldau 1991 seine Unabhängigkeit erklärte, bangte die russischsprachige Bevölkerung östlich des Dnister um ihre Rechte, da sich die Westseite dem kulturell verwandten Rumänien annäherte. So sagte man sich von der neuen Moldauer Regierung los und rief stattdessen die „Transnistrische Moldauische Republik“ aus.
Es folgte ein Krieg, der unter russischer Beteiligung schnell beendet wurde. Der De-facto-Staat Transnistrien entstand. Er ist international nicht anerkannt, trotzdem verfügt er über eine Armee, ein Parlament und eine Verfassung. Bezahlt wird mit transnistrischen Rubeln – einer Staatswährung, die in Plastikmünzen und nahezu wertlosen Scheinen daherkommt.
Michail deutet in Richtung der Uferwiesen jenseits des Flusses. „Eigentlich sind das doch unsere Leute da drüben. Diese Grenze, dieser Staat… Alles Politik.“ Weiter flussabwärts, ergänzt Tatjana, sei eine Brücke hinüber nach Transnistrien. „Es ist immer etwas unheimlich. Dort stehen die Russen mit ihren Gewehren!“
Um ein Wiederaufflammen des Transnistrien-Konflikts zu verhindern, wurde nach Kriegsende eine Pufferzone am Flussufer eingerichtet. An den sieben Dnistr-Brücken sollen Soldaten für Ordnung sorgen.
Sie sind Teil einer Friedenstruppe, die aus russischen, moldauischen und transnistrischen Streitkräften besteht. Bis heute sind etwa 1500 Soldaten der russischen Armee in Transnistrien stationiert.
Moldau fürchtet die russischen Soldaten. Denn das kleine Land, das an die Ukraine grenzt, gilt als mögliches Angriffsziel Russlands. Ende 2023 hatte Transnistrien den Schutz Moskaus erbeten. Beobachter bangten, dass Russland nach der Ukraine nun auch Moldau angreifen könnte – mit der Begründung, in Transnistrien lebende Russen schützen zu wollen, da diese unterdrückt würden. Im Januar hielt Putins Berater Nikolaj Patruschew ein Ende des Staates Moldau für realistisch, schließlich sei der, wie auch die Ukraine, durch seine antirussische Politik in eine tiefe Krise gestürzt.
Auch das benachbarte EU- und Nato-Land Rumänien spürt die Einflussnahme. Dort gewann im Mai der Proeuropäer Nicusor Dan die Präsidentschaftswahl, aber nur ganz knapp. Hätte sein prorussischer Herausforderer Calin Georgescu gewonnen, der ein Ende der Ukraine-Unterstützung fordert, wäre das zu einem enormen Problem geworden – für Moldau, aber auch für die EU und die Nato. Im Ukraine-Krieg spielt Rumänien eine Schlüsselrolle, im Donaudelta am Schwarzen Meer entsteht gerade die größte Nato-Basis Europas.
Nur eine hauchdünne Mehrheit ist proeuropäisch
Um sich angesichts des russischen Drucks stärker in Europa zu verankern, sucht die ehemalige Sowjetrepublik Moldau nun die Nähe zur EU. Das Land sei „auf dem Weg zum EU-Beitritt weiter vorangekommen“, lautete im Oktober 2024 das Urteil der Europäischen Kommission. Ein paar Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine war das Nachbarland zum Beitrittskandidaten erklärt worden.
Im vergangenen Herbst ließ die proeuropäische Präsidentin Maia Sandu darüber abstimmen, ob der EU-Beitritt in der Verfassung verankert werden solle. Zwar stimmte eine Mehrheit dafür, doch war sie mit 50,38 Prozent sehr dünn. Viele Bewohner Moldaus sind noch immer hin- und hergerissen zwischen Ost und West. Eine endgültige Entscheidung steht mit der Parlamentswahl im September noch aus.
Russland versucht derweil alles, um Moldaus Weg in die EU zu stören. Ein Hebel ist Transnistrien, ein weitgehend hilfloses Gebilde, das mit russischen Rentenzahlungen und fast kostenfreien Gaslieferungen am Leben gehalten wird. So fühlen sich viele der von Moskau alimentierten Transnistrier zu Russland hingezogen. Die Kreml-Propaganda tut ihr Übriges: In Transnistrien kann man das in Moldau illegale russische Staatsfernsehen problemlos empfangen.
Brigitta Triebel, die das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Chisinau leitet, sieht die Lage kritisch. In ihrem Länderbericht schreibt sie: „Russland hat diesen Pseudostaat seit mehr als dreißig Jahren militärisch, wirtschaftlich und politisch unterstützt. So kann Russland mit dieser Region und der damit verbundenen Spaltung innerhalb Moldaus die Entwicklungen [...] weiterhin beeinflussen.“
Viele Moldauer sehen den Konflikt indes pragmatisch. Für Einheimische ist es reine Formsache, die innere Grenze zu passieren. Von Chisinau gibt es Dutzende tägliche Verbindungen in die transnistrische Hauptstadt Tiraspol. Die Fahrt im Minibus dauert nur eineinhalb Stunden.
Abfahrt um 17 Uhr vom Busbahnhof Chisinau. Händler verkaufen Teigtaschen mit Weißkäse, der Fahrer drängt zur Abfahrt. Eine blonde Frau erzählt, sie pendele die Strecke fast täglich. „Ich habe die transnistrische Staatsbürgerschaft“, sagt sie und wedelt mit einem rotbraunen Heftchen. „Aber dieser Pass ist nur ein Stück Papier. Wertlos. Jeder bei uns hat deshalb auch einen moldauischen oder russischen Pass.“
Vor dem Busfenster endet Chisinau, wie ein groteskes Stadttor flankieren zwei treppenförmige Plattenbauten die Ausfallstraße. Dann endlose Sonnenblumenfelder, der Kleinbus holpert über Straßen, die Richtung Grenze immer schlechter werden. „Ich arbeite auch in Chisinau, bei uns in Transnistrien gibt es keine Perspektiven und schlechte Löhne“, erzählt die Frau weiter. Die meisten suchten sich Arbeit in Moldau, Russland oder Europa.
Als die Chisinauer Sender zu schwach werden, schaltet der Fahrer auf transnistrisches Radio um. Russische Schlager, dazwischen Werbung für Seniorenkurorte in Kaliningrad. Hinter der nächsten Straßenbiegung stoppt der Bus. Ein verbeulter Schlagbaum versperrt die Straße, etwas weiter hinten stehen vermummte Soldaten unter russischer und transnistrischer Fahne. Eine moldauische Kontrolle in der Gegenrichtung gibt es nicht – Chisinau erkennt die Existenz der Grenze nicht an.
Einige Dutzend Kilometer flussaufwärts tönt ein Signalhorn über den Dnister. Eine Fähre legt ab, mit etwa dreißig Autos und einem alten Eiswagen an Deck. Die Fahrt über den Fluss, der hier anderthalb Kilometer breit ist, dauert zwanzig Minuten, die kostenlose Autofähre verkehrt alle zwei Stunden. Eine umständliche Verbindung, zumal es ein paar Autominuten südlich eine Brücke gibt.
Trotzdem bevorzugen viele die Fähre. Denn sie verbindet Moldau mit seinen „gallischen Dörfern“. Das sind zwei kleine Gemeinden, die zu Moldau gehören, obwohl sie auf der transnistrischen Seite des Dnisters liegen. Im Unabhängigkeitskrieg wurde hier so erbittert gegen die Separatisten gekämpft, dass die Region bis heute zu Moldau gehört.
Am Anleger auf der Ostseite stehen wieder die Russen. Regungslos starren sie auf die Autos, die gemächlich von der Fähre rollen, vorbei an schwerem Kriegsgerät in dunkelgrünem Tarnfleck. Rundherum Apfelbäume, kleine Häuser und Brunnen beidseits der Schotterpiste.
Marina Gazea ist Bürgermeisterin von Molovata Noua, dem kleineren der „gallischen Dörfer“, und stolz auf ihre tapfere Region. Wer ein Problem mit den transnistrischen Behörden, zollpflichtiger Ware im Kofferraum oder schlicht seinen Ausweis vergessen hat, müsse die Autofähre nehmen, um Moldau auf dem Weg in die beiden Gemeinden nicht zu verlassen, so Gazea.
Die transnistrische Grenze verläuft einige Kilometer weiter südlich, bis heute sei nicht vollständig geklärt, wo genau eigentlich, sagt die Bürgermeisterin. „Die Grenze ist ein Indikator, wie gut wir uns gerade verstehen. Wenn Transnistrien und Moldau sich streiten, bekommen wir das hier ab. Dann lassen die transnistrischen Behörden unsere Bauern nicht auf ihre Felder, weil über sie teilweise die Grenze verläuft.“
Im Januar gab es in Molovata Noua und Cocieri plötzlich kein Gas mehr. Russland hatte die kostenlose Lieferung nach Transnistrien gestoppt – mitten im Winter. Das öffentliche Leben kollabierte, Kindergärten und Schulen schlossen. Der Stopp betraf auch die beiden moldauischen Dörfer. Die Bürgermeisterin schüttelt den Kopf und lacht. „Unsere Leute zogen wieder in den Wald, um Brennholz zu schlagen. Wie vor hundert Jahren.“
Laut Expertin Triebel verfolgte Putin damit politische Ziele: „Mit dem Stopp der russischen Gaslieferungen hatte Chisinau zwei Krisen parallel zu bewältigen, die im Wahljahr 2025 die politische Stabilität gefährden könnten. Sie könnten die anstehenden Parlamentswahlen im September beeinträchtigen.“ Denn aus Wut über die exorbitanten Energiepreise droht die regierende proeuropäische PAS-Partei deutlich an Stimmen zu verlieren. Viele machen die russlandkritische Politik der PAS für die Probleme verantwortlich.
Im Büro von Bürgermeisterin Gazea taucht Andrej auf, ein Freund, der seinen Nachnamen für sich behält. „Mein Sohn ist in Deutschland, meine Tochter in England. Das geht in Moldau jedem so, alle haben Kinder, die im Westen leben. Die Rentner bleiben hier“, erzählt er. „Wir wollen so leben wie in Deutschland! Deshalb wollen wir doch auch in die EU.“
Dann deutet Andrej Richtung Süden. „Dort, in Transnistrien, wollen sie zu Russland gehören. Weil die Sprache die gleiche ist. Weil sie Gas von den Russen bekommen.“ Man habe dort nicht verstanden, dass Russland außer billiger Energie und Krieg nicht viel zu bieten habe.
„Dabei müssten sie es besser wissen“, wirft Gazea ein. „Bis Odessa sind es nur 150 Kilometer. Wenn das bombardiert wird, hört man das hier! Es klingt wie fernes Donnergrollen.“ Trotz seiner Abneigung hat Andrej irgendwann die transnistrische Staatsbürgerschaft beantragt. Weil der TÜV dort billiger ist.
Anfang Juli fand in Chisinau der EU-Moldau-Gipfel statt. Kommissionschefin Ursula von der Leyen reiste an, Fortschritte wurden gelobt, Reformen gewürdigt. Mit 1,9 Milliarden Euro will Brüssel die Reformagenda beschleunigen. Die gemeinsame Abschlusserklärung fordert einen „Abzug des gesamten russischen Militärpersonals und der Munition aus Transnistrien“.
Doch bei der Forderung dürfte es bleiben. Vorerst wird Moskau seine Truppen nicht abziehen. Denn das Tauziehen zwischen Russland und dem Westen um das kleine Moldau ist noch lange nicht vorbei.
Julius Fitzke ist Volontär an der Axel Springer Academy for Technology and Journalism.
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