Mit der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu habe der türkische Präsident Erdoğan "die letzte demokratische Hoffnung vernichtet", sagt der türkische Journalist Bülent Mumay im Interview mit ntv.de. Vom Westen verlangt er, Menschenrechtsverletzungen in der Türkei immer wieder anzuprangern. Hoffnung macht Mumay ein Blick auf die Strategie der Imamoğlu-Partei CHP.
ntv.de: Herr Mumay, in einer Ihrer ersten FAZ-Kolumnen schrieben Sie im Jahr 2016, unter Recep Tayyip Erdoğan sei die Türkei "wie eine Melone politisch auseinandergeschlagen worden". Mit welcher Frucht würden Sie heute den politischen Zustand des Landes vergleichen?
Bülent Mumay: Die Türkei ist keine Frucht mehr, sondern eine Zwiebel. Eine gruselige Zwiebel, die einen nur noch weinen lässt. Wir Türken sind eigentlich eine sehr humorvolle Gesellschaft, die Freude am Leben hat. Aber seit einigen Jahren haben wir unsere Leichtigkeit verloren. Wir hatten in der Gesellschaft viele Gemeinsamkeiten, wir hatten Institutionen, die sich für die gesamte Gesellschaft zuständig fühlten. Aber seit Erdoğans Reise von der Demokratie zur Autokratie fühlen sich die Menschen weniger loyal gegenüber Regierung und Gesellschaft. Denn der Präsident hat den Staat auf sich zugeschnitten; es gibt keine Gewaltenteilung mehr. Der Staat ist der Palast - der Palast ist der Staat.
Sehen Sie nur noch schwarz für die Zukunft des Landes?
Der 19. März, der Tag, an dem der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu verhaftet wurde, führte zu Enttäuschung bei denjenigen, die einen Wandel wollten. Trotz der Wirtschaftskrise und der Repressalien hatten die Menschen vorher noch die Hoffnung, einen Regierungswechsel an den Wahlurnen herbeiführen zu können. Das hat sich geändert. Erdoğan hat die letzte demokratische Hoffnung vernichtet. Die Menschen haben nicht einmal mehr die Möglichkeit, demokratisch gewählte Politiker zu wählen, weil viele von ihnen im Gefängnis sitzen. Erdoğan weiß allerdings, dass Imamoğlu mit jedem Tag im Gefängnis immer populärer wird. Wenn es jetzt Wahlen gäbe, würde Imamoğlu mit sechzig Prozent gewinnen - deshalb wird er im Gefängnis bleiben müssen. Aber ihn im Gefängnis zu behalten, ist natürlich keine Lösung, denn momentan könnte jeder CHP-Politiker gegen Erdoğan gewinnen. Deshalb befürchten die Leute, dass noch mehr Menschen inhaftiert werden und dass es überhaupt keine freien Wahlen mehr geben wird.
Imamoğlu wurde am 16. Juli wegen Beleidigung eines Amtsträgers zu einer Haftstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt - die Staatsanwaltschaft forderte gar mehr als sieben Jahre und ein Politikverbot. Wundert Sie das milde Urteil?
Es laufen ja noch ein Dutzend weitere Verfahren gegen ihn. Der Versuch, ihn als Präsidentschaftskandidat zu stoppen, wird weitergehen. Es ist die DNA des Landes, die gerade zerstört wird; die größte Partei des Landes wird zermalmt. Alle Umfragen zeigen, dass die CHP fast überall vor der AKP liegt. Als ich vor zehn Jahren mit meinen "Briefen aus Istanbul" in der FAZ begonnen habe - unmittelbar nach dem Putschversuch 2016 - hätte ich mir eine solche Situation nicht vorstellen können. Es war zwar offensichtlich, dass Erdoğan mit jeder gewonnenen Wahl und mit jeder Krise wie den Gezi-Protesten immer autokratischer wurde und dass er die Opposition und Zivilgesellschaft immer weiter unter Druck setzte. Eine Situation, wie wir sie jetzt erleben, hätte ich mir dennoch nicht ausmalen können.
Wie geht es für Imamoğlu weiter?
Die regulären Wahlen sollen 2028 stattfinden. Aber Erdoğan kann gemäß der Verfassung nicht mehr kandidieren. Nur mit einer Verfassungsänderung oder vorgezogenen Neuwahlen wäre für Erdoğan eine weitere Kandidatur möglich. Für beides braucht er die Stimmen der Opposition. Darum versucht er, mit den Kurden Frieden zu schließen. Entsprechend halte ich es für möglich, dass Imamoğlu bis zu den nächsten Wahlen im Gefängnis bleiben muss. Das ist mein pessimistisches Szenario: höchstwahrscheinlich wird es im Herbst 2027 vorgezogene Wahlen geben.
Imamoğlus Festnahme hat landesweit Demonstrationen ausgelöst, die zu den heftigsten Unruhen seit den Gezi-Park-Protesten im Jahr 2013 führten. Jetzt ist es wieder eher ruhig. Warum gelingt es der Opposition nicht, die Massen weiter zu mobilisieren?
Die Opposition ist nicht leise. Özgür Özel und andere CHP-Politiker haben zunächst zu riesigen Demonstrationen in den Großstädten aufgerufen. Das hat die AKP natürlich sabotiert. Um die Studentenproteste zu unterbinden, wurden die Semesterferien vorgezogen, damit die Studenten früher in die Ferien fahren. Jetzt geht die Opposition jeden Samstag in kleine Städte, die eher pro Erdoğan sind, und demonstriert dort - in Städten wie Malatya, Bayburt oder Yozgat. Erste Umfragen zeigen, dass dies in den anatolischen Städten wirkt - selbst mit der MHP zusammen erreicht die AKP nur rund 35 Prozent bei den Umfragen. Insgesamt ist es viel cleverer, den Protest nach Anatolien zu tragen, als in den Großstädten zu demonstrieren.
Zurzeit sitzen etwa 15 bekannte CHP-Politiker und mehrere Hundert Parteimitglieder in den Gefängnissen. International sorgt das kaum mehr für Schlagzeilen. Haben wir uns hierzulande damit abgefunden, dass in der Türkei teilweise vergleichbare Zustände wie in Russland herrschen?
Hätten wir solche Zustände vor zehn Jahren gehabt, wäre der Aufschrei im Westen riesig gewesen. Jetzt erfolgt in Syrien eine Neuordnung, ferner sind die Flüchtlinge weltweit ein innenpolitisches Thema, und der Krieg mit Russland beherrscht die Nachrichten. Der Westen braucht die Türkei. Deshalb sind die Reaktionen sehr verhalten.
Erdoğan kalkuliert ja auch damit, dass die steigende geopolitische Bedeutung der Türkei die Europäer dazu drängt, zur Wahrung ihrer Sicherheitsinteressen das harte Vorgehen gegen die türkische Opposition zu ignorieren. Die internationale Stille scheint ihm recht zu geben. Kann Erdoğan also jeden inhaftieren, den er will?
Absolut, das kann er. Wer einen Imamoğlu inhaftieren kann, vermag jeden festnehmen zu lassen. Aber ich störe mich an der Sichtweise, wonach der Westen Erdoğan brauche. Der Westen braucht ebenso sehr die Türkei. Die Türkei gehört jedoch nicht Erdoğan. Dieser denkt zwar, ihm gehöre das Land, weil er gewählt wurde. Aber man darf nicht vergessen, dass mehr als fünfzig Prozent der Türken gegen ihn und prowestlich eingestellt sind.
Europa steckt in einer Zwickmühle. Soll es eine Sicherheitspartnerschaft mit einer Regierung eingehen, die demokratische Prinzipien völlig aufgegeben hat?
Die Europäer sollen immer noch mit der Türkei zusammenarbeiten. Die Türkei ist ein Nato-Partner, ein EU-Beitrittskandidat, ein Vermittler in Konflikten - aber gleichzeitig sollten die Europäer nicht zögern, die Finger in die Wunden zu legen. Als Imamoğlu festgenommen wurde, waren die Reaktionen international sehr verhalten. Das reicht nicht aus. Als in den 90er-Jahren deutsche Waffen in Diyarbakir gegen die PKK eingesetzt wurden, ging Claudia Roth deswegen auf die Straße. Heute reicht nicht einmal mehr die Festnahme des größten Opponenten aus, um ausreichend Protest zu erregen. Dabei geht es auch um europäische Werte, die verteidigt werden sollten.
Lassen Sie uns noch über die Waffenniederlegung der PKK und die Zusammenarbeit zwischen der prokurdischen DEM-Partei und der Regierungskoalition sprechen. Das Motiv ist ja durchschaubar: Erdoğan braucht die Kurden für seine Wiederwahl. In Ihrem Buch schreiben Sie: "Auf Kundgebungen hatte Bahçeli [der Chef der rechtsextremen MHP] früher eine Schlinge geschwenkt, die Hinrichtung des PKK-Chefs und ein Verbot der von Kurden gegründeten Parteien gefordert; das Verfassungsgericht wollte er schließen lassen, weil es dieser Forderung nicht nachkam." Jetzt aber streben Bahçeli und Erdoğan eine Koalition mit der DEM an, sie hofieren fast schon den inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan. Warum sollte sich die DEM auf einen solchen Pakt einlassen?
Die DEM hat rund zehn Prozent der Stimmen auf Landesebene. Aber die kurdischen Wähler in den Großstädten neigen mittlerweile nicht mehr dazu, Erdoğan zu wählen, sie neigen zur Opposition. In der südostanatolischen Großstadt Diyarbakir wählen die Menschen das, was die DEM ihnen vorschlägt, aber nicht in Istanbul. Und dort leben die meisten Kurden. Von 16 Millionen Einwohnern haben 5 Millionen kurdische Wurzeln. Wenn Erdoğan erkennt, dass sein Szenario nicht funktioniert, ist es gut möglich, dass er den Friedensprozess wieder beendet - wie schon 2015, nachdem die prokurdische HDP die die Zehnprozenthürde übersprang und mit ihrem Sprung ins Parlament Erdoğans Präsidialsystem vorerst zunichtemachte.
Herr Mumay, Sie haben 2017 geschrieben: "Deutschland darf die europäisch gesinnten Türken nicht ignorieren, sonst verliert das ganze Land". Die neue Bundesregierung scheint wenig Interesse an der türkischen Zivilgesellschaft zu haben. Fühlen sich die Menschen in der Türkei von der internationalen Politik im Stich gelassen?
Es wäre unfair, der deutschen Regierung die ganze Verantwortung zuzuschreiben. Aber es wird übersehen, dass Erdoğan nicht immer an der Macht bleiben wird. Es gibt eine sehr starke Zivilgesellschaft in der Türkei, die die demokratischen Reste der Türkei verteidigt. In den EU-Fortschrittsberichten steht, man sei "zutiefst besorgt" über die Entwicklung. Besorgnis alleine reicht nicht aus. Man sollte mit der Zivilgesellschaft in der Türkei zusammenarbeiten, demokratiestärkende Projekte unterstützen und die Menschenrechtsverletzungen in Gesprächen immer wieder anprangern.
Mit Bülent Mumay sprach Çiğdem Akyol
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