"Keine Krise", sagt Kanzler Merz - und ist mit dieser Einschätzung zum Zustand seiner Koalition weitgehend alleine. Je mehr sich der Staub der geplatzten Richterwahl lichtet, desto lauter stellt sich eine Frage: Wie wollen Union und SPD eigentlich die wirklich schweren Themen lösen?

Auch die zweite Woche nach der gescheiterten Wahl von drei neuen Bundesverfassungsrichtern endet ohne Annäherung der hierüber verkrachten Regierungsfraktionen aus Union und SPD. Bundeskanzler Friedrich Merz hat zwar eine Lösung ohnehin erst "im September oder ab September" angekündigt. Doch so sehr sich die meisten Beteiligten auch um Abkühlung der erhitzten Gemüter durch Schweigen bemühen: Das resultierende Vakuum gibt in der parlamentarischen Sommerpause viel Raum, über die tieferliegenden Gründe des Eklats vom 11. Juli nachzudenken.

Am Mittwoch bekräftigte SPD-Fraktionsgeschäftsführer Dirk Wiese, dass die Sozialdemokraten an ihrer Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf festhalten werden. Zugleich bestätigte Wiese die anhaltende Verstimmung seiner Leute: "Die Unzufriedenheit bei uns ist da über das Vorgehen der Union bei der Richterwahl. Hier sind wir aber zu in Gesprächen." Appelle der SPD an die zweifelnden Unionsabgeordneten, doch einmal das Gespräch mit Brosius-Gersdorf zu suchen, bleiben vorerst allerdings ungehört.

"Der Streit um die Besetzung des Postens beim Bundesverfassungsgericht, also um Frau Brosius-Gersdorf, würde mit Sicherheit nicht so erbittert geführt, wenn er nicht auf viel tiefer liegende Konflikte verweisen würde", analysiert Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke von den "Blättern für deutsche und internationale Politik" für ntv.de. Je mehr Zeit ins Land streicht, desto deutlicher wird der tiefe Riss zwischen Sozialdemokraten einerseits und den Kanzlerparteien CDU und CSU andererseits.

Unzufriedenheit auf beiden Seiten

Anders als früher machen viele Unionsabgeordnete den Koalitionsfrieden oder die Autorität des Bundeskanzlers nicht mehr zum Fixpunkt ihrer Entscheidungen, wie eine Rekonstruktion des "Stern" zeigt. Sie wollen nicht mehr bloße Erfüllungsgehilfen ihres Kanzlers sein; nicht wenige finden, dass die Union jetzt schon zu viele Zugeständnisse an die SPD gemacht hat. Unter dem Druck der AfD, die der Union permanent Verrat an den eigenen Überzeugungen vorwirft, sinkt die Kompromissbereitschaft vieler Mandatsträger aus CDU und CSU.

Andersherum fühlt sich die SPD-Fraktion vor den Kopf gestoßen. Immer wieder verweisen die Abgeordneten um Fraktionschef Matthias Miersch auf die Aussetzung des Familiennachzugs für bestimmte Flüchtlingsgruppen. Die Sozialdemokraten hatten ihr gegen die eigene Überzeugung zugestimmt, weil es so mit CDU und CSU im Koalitionsvertrag vereinbart war. Jetzt fragen SPD-Abgeordnete laut: Wie verlässlich ist die Union künftig bei der Verabredung von Koalitionskompromissen der Spielart "Ihr bekommt dies, wir bekommen jenes"?

Womöglich wissen das weder CDU-Chef Merz noch der Unionsfraktionsvorsitzende Jens Spahn mit Sicherheit zu beantworten. Auch wenn der Kanzler beharrlich behauptet, es gebe "keine Krise", wissen doch alle Beteiligten um den Ernst der Lage. Dazu müssen sie nur auf die Umfragewerte schauen.

Jetzt schon schwächer als die Ampel

Lagen die Ampelfraktionen elf Wochen nach Regierungsbeginn zusammengenommen noch einen Prozentpunkt über ihrem Bundestagswahlergebnis, ist bei Schwarz-Rot das Gegenteil eingetreten. Nach Ablauf des gleichen Zeitraumes liegen Union und SPD im RTL/ntv-Trendbarometer jeweils drei Prozentpunkte unter ihrem Zweitstimmenergebnis vom 23. Februar. Derweil liegt die AfD gleichauf mit CDU und CSU, während die SPD mit 13 Prozent Zustimmung nur noch einen Punkt vor der Linken liegt. Das Ansehen des Kanzlers und seiner Koalition ist bestenfalls durchwachsen, trotz der zahlreichen und durchaus kraftvollen Beschlüsse der vergangenen Wochen.

Schwarz-Rot habe "schon in den ersten drei Monaten nicht an Vertrauen bei der Bevölkerung gewonnen, sondern massiv verloren", sagt Politikwissenschaftler von Lucke. "Folglich würde es jetzt bereits prozentual zu einer Koalition nicht mehr reichen." In einer Situation aber, in der beide Seiten geschwächt seien, falle es beiden schwer, gesichtswahrend auf den anderen zuzugehen.

Hinzukommt die Schwäche ihrer jeweiligen Anführer: Auf ihrem Parteitag in Berlin hat die SPD ihre Vorbehalte gegen ihren Parteivorsitzenden und Vizekanzler, Lars Klingbeil, überdeutlich zum Ausdruck gebracht. Merz wiederum hat mit der geplatzten Richterwahl zum zweiten Mal eine Bauchlandung im Parlament hingelegt, nachdem schon die Kanzlerwahl im ersten Wahlgang gescheitert war. Die Häuptlinge hüten sich vor weiteren Ansagen an die eigenen Leute.

Union hat nur Mehrheiten für linke Politik

Mit ihrer "Arbeitskoalition" wollten Merz und Klingbeil die politische Mitte auf Kosten der Ränder stärken. Der laut Umfragen gegenläufige Trend muss nichts heißen. Vorausgesetzt, alle behalten die Nerven, bis Reformen und Investitionen greifen und womöglich einen Stimmungsumschwung bewirken. Doch die Zeit rennt: Schwarz-Rot bleiben - nur oder noch - acht bis vierzehn Monate für eine Trendwende: Im März 2026 wählen Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz einen neuen Landtag, im September folgen Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin.

Materialisieren sich dann die hohen Zustimmungswerte der AfD auch in entsprechenden Wahlergebnissen, scheint alles denkbar. Insbesondere in Schwerin und Magdeburg könnte eine Regierungsbildung unter Ausschluss der AfD schwierig bis unmöglich werden, vor allem wenn die CDU an ihrem selbst auferlegten Kooperationsverbot mit der Linken festhält. Die Linke übrigens brauchen SPD und Union genauso wie die Grünen, um ihre drei Richterkandidaten zur nötigen Zweidrittelmehrheit ohne AfD-Stimmen zu verhelfen. Lässt Schwarz-Rot nun Brosius-Gersdorf oder alle drei Kandidaten fallen, müssen abermals beide Parteien überzeugt werden.

Das Dilemma liegt auf der Hand: CDU und CSU wollen sich als konservative, aber zutiefst demokratische Alternative zur AfD profilieren, haben aber nur Mehrheiten für eine linkere Politik als die eigene. Die SPD wiederum kann der Union nur begrenzt helfen, weil sie den heißen Atem von Linken und Grünen im Nacken spürt. Es ist vertrackt. Der Weg zu einer Richter-Einigung ist so weit wie steil. Dabei - und das ist die eigentliche Krux - ist eine Verfassungsrichterwahl eigentlich eine Petitesse im Vergleich zum Programm, das Union und SPD im Herbst erwartet.

Die wahren Knackpunkte kommen erst

Im September soll der Bundeshaushalt des laufenden Jahres durch den Bundestag. Hier gibt es noch Konflikte um zweistellige Milliardensummen. Gelingt eine Einigung, folgen im Herbst die Verhandlungen über den Haushalt 2026. Spätestens dort werden die dringend notwendigen Konsolidierungen über praktisch alle Ressorts hinweg zur nächsten Belastungsprobe.

Eine dauerhafte Reform der Schuldenbremse würde Bundesfinanzminister Klingbeil perspektivisch Spielräume verschaffen und die Haushaltsplanung vereinfachen. Doch die im Koalitionsvertrag vereinbarte Reform könnte ebenfalls daran scheitern, dass für eine Grundgesetzänderung Linke und Grüne zustimmen müssten. Die haben aber ganz andere Vorstellungen als CDU und CSU. Da ist es wieder: das Grunddilemma einer Union, die aus inhaltlicher Überzeugung und berechtigter Angst vor den Folgen für das Land nicht mit der AfD kooperiert.

Bei den geplanten Reformen bei Bürgergeld und den Sozialkassen mit ihren ausufernden Kosten braucht es die Opposition zwar nicht. Dafür gehen die Vorstellungen auch innerhalb der Koalition weit auseinander. Albrecht von Lucke schwant nichts Gutes: Die Richterwahl sei "bereits jetzt eine gewaltige Hypothek für die kommenden großen Vorhaben im Herbst", so der Politikwissenschaftler. "Denn bei diesen geht es noch weit mehr um die Identität der beiden Parteien. Insofern wird ein Abrücken von den eigenen Positionen Union und SPD noch weit schwerer fallen."

Lauter Konfliktthemen

Sich verschärfende inhaltliche Konflikte sind aber auch bei einer ganzen Reihe anderer Themen zu beobachten. Der SPD-Fraktion missfällt, dass sich Merz und Außenminister Johann Wadephul einem Appell von 29 befreundeten Demokratien gegen den Gaza-Krieg nicht angeschlossen haben. Der SPD-Nachwuchs hadert mit dem Wehrdienst-Konzept von Verteidigungsminister Boris Pistorius, das näher bei den Vorstellungen der Union ist. SPD-Bundesumweltminister Carsten Schneider wirbt für einen entschlosseneren Ausbau der Erneuerbaren Energien, während die christdemokratische Wirtschaftsministerin Katherina Reiche die Kostenfrage betont und spätestens im September neue Wege einschlagen könnte. Die SPD hält am EU-weiten Verbrenner-Aus für Pkw 2035 fest, die Union stellt die Regelung offen infrage - einschließlich des Bundeskanzlers.

"Die Koalition droht in eine fatale Abwärtsspirale zu geraten", schätzt von Lucke. "Das alles bedeutet nicht, dass die Koalition in Kürze auseinanderbricht. Im Gegenteil: Die beidseitige Schwäche dürfte die Parteien weiter aneinander klammern lassen." Dann würde weiterregiert aus Angst vor Wahlen - wie im letzten Jahr der Ampel. Die Negativszenarien sind weniger als 100 Tage nach dem Start der Regierung erstaunlich klar. Wie sie abgewendet werden könnten, vermag indes niemand zu sagen. Schon die verbleibenden Wochen bis September könnten das Schicksal der Merz-Regierung besiegeln.

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