Ukrainische Städte melden immer neue Rekorde an russischen Luftangriffen. Zugleich zeigt Russland, wie gut die Drohnenproduktion inzwischen läuft. Wie kann sich die Ukraine schützen? Oberst Markus Reisner ist sich sicher: Der Geheimdienst arbeitet bereits an der nächsten spektakulären Attacke.
ntv.de: Herr Reisner, Kiew steht wohl eine weitere Bombennacht bevor. In der vergangenen wurden auch Kindergärten attackiert und die U-Bahn. Selbst in Metro-Stationen sind die Menschen also nicht mehr sicher. Ist das eine momentane Angriffswelle, oder wird das für die Ukrainer zum neuen Kriegsalltag, jede Nacht im Luftschutzkeller?
Markus Reisner: Die Russen greifen mit einem Dreiklang an, so wie gestern Nacht wieder: Zuerst kommen Hunderte von Angriffs- und Täuschdrohnen zugleich, um die ukrainische Fliegerabwehr zu zwingen, sie mit kostbaren Waffensystemen zu beschießen. Denn jede der einfliegenden Drohnen könnte mit Sprengstoff beladen sein. Zeitgleich oder unmittelbar nach dieser Welle folgen die aus Russland abgefeuerten Raketen und Marschflugkörper. Das Kalkül: Die Ukraine hat dann keine Munition mehr für die Abwehr, und diese potenteren Waffen erreichen ihr Ziel. Wenn wir uns die laufenden russischen Einsätze von Geran-2 Angriffs- und Täuschdrohnen auf ukrainische Rüstungsindustrie, kritische Infrastruktur und Städte anschauen, so ist der Trend zur Steigerung offenkundig.
Gibt es konkrete Zahlen dazu?
Im April hat die russische Armee über 3000 dieser Drohnen eingesetzt, im Mai mehr als 4000 und im Juni haben wir schon 5000 Einsätze gesehen. Mit dem gestrigen Angriff zählen wir für Juli bereits etwa 4500. Bis Ende des Monats wird die Einsatzzahl also nochmals gestiegen sein. Insgesamt haben die Russen bislang etwa 30.000 dieser Drohnen eingesetzt.
Der Chef des Führungsstabs Ukraine in der Bundeswehr, Generalmajor Christian Freuding, hält Angriffe mit bis zu 2000 Drohnen in Zukunft für möglich. Sie auch?
In der Spitze ist das realistisch. Derzeit geht die Angriffsstärke alle zwei, drei Nächte rauf auf 600, bis zu 700 Drohnen. In der Folgenacht geht es wieder runter. Ich habe ja schon vor einer Weile analysiert, dass die Russen die Drohnen-Menge, für die sie sonst einen Monat benötigten, jetzt in drei Tagen produzieren. Wenn diese Steigerung sich weiter fortsetzt, dann sind 2000 Drohnen nicht jede Nacht, aber in der Spitze absolut möglich. Am Sonntag hat die russische Seite ein Video zur Drohnen-Produktion in Tartastan präsentiert, ich zeige es Ihnen.
In Tartastan befindet sich ein bekanntes, sehr großes Drohnen-Werk. Die Geran 2-Drohnen kommen dort zu Tausenden vom Fließband. Neben dem Werk steht ein Arbeitslager und meiner Einschätzung nach stammen die Arbeitskräfte dort auch aus Ländern der BRICS-Staaten, die einen Vertrag bekommen, um in Russland zu arbeiten. Beim jüngsten Treffen zwischen Russland und Nordkorea hat Kim Jong Un nicht nur ein größeres Kontingent von Soldaten zugesagt, sondern auch Arbeitskräfte zur Unterstützung in den russischen Fabriken.
Wenn der Kreml ein solches Video teilen lässt, bedeutet das auch: Er fühlt sich mit Blick auf diesen Rüstungsbetrieb vollkommen sicher, oder?
Zum einen ist dieses Werk sehr bekannt. Jeder, der sich mit dieser Thematik befasst, kennt seinen Standort. Ein solches Video soll vor allem eine Botschaft an die russische Bevölkerung senden: Wir sind stark! Unsere Drohnen wirken zu tausenden gegen den Feind. Zum anderen funktioniert die russische Fliegerabwehr immer besser.
Das nimmt man im Westen bloß nicht so wahr?
Mit Blick auf ukrainische weitreichende Luftangriffe hören wir immer nur von den Erfolgen. Aber die Ukrainer fliegen auch alle zwei, drei Tage Angriffe mit bis zu 140 Drohnen. Und wenn die nicht durchkommen, hören Sie gar nichts davon. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Vor Kurzem hat die ukrainische Armee einen massiven Angriff unbemannter Systeme im Schwarzen Meer orchestriert. Die sind gescheitert, weil die Russen alle unbemannten Schiffe rechtzeitig erkannt und vernichtet haben. Nur bei Erfolg hätten die Ukrainer das in den Sozialen Medien ausgewertet.
Aber soll das Fabrik-Video nicht auch der Ukraine und ihren Unterstützern sagen, "Gebt halt auf, gegen uns zu kämpfen macht eh keinen Sinn"?
Eine gewisse Beeinflussung des Gegenübers ist sicher mit intendiert, aber weniger wichtig.
Warum?
Für die Russen ist derzeit jede Zusammenarbeit mit dem Westen ausgeschlossen. Man hat vollständig abgeschrieben, den Westen davon zu überzeugen, dass die russische Sache die richtige ist. Darauf verwenden sie, mit Ausnahme hybrider Beeinflussung, keine Zeit mehr. Der Westen ist nur noch Angriffsziel. Vor allem auch mit versteckten Methoden und Beeinflussung durch Desinformation.
Wenn also Putins Produktion von Drohnen immer schneller und besser wird, ist die Ukraine der Entwicklung letztlich ausgeliefert?
Die Ukraine müsste jetzt einen spektakulären Angriff auf dieses Werk starten - so wie vor kurzem bei der Operation Spider Web gegen die Militärflughäfen. Ich bin mir 100 Prozent sicher, dass die Ukrainer etwas in dieser Richtung planen. Möglicherweise sehen wir das sogar zeitnah, im Zusammenhang mit den nächsten Gesprächen in Istanbul. Vor diesen Verhandlungsrunden kam es schon mehrfach zu spektakulären Angriffen. Auch, um zu zeigen: Schreibt uns nicht ab. Wir können noch Initiative zeigen. Dieses große Werk in Tatarstan muss Ziel Nummer Eins sein, das liegt auf der Hand. Denn eine Schwächung dieses Produktionsortes durch einen massiven Angriff würde eine Störung der russischen Fähigkeiten bedeuten.
Aber wenn das nicht klappt, wenn die Produktion weiter gesteigert wird: 2000 Geran 2-Drohnen in einer Nacht abwehren zu wollen, ist das illusorisch? Selbst, wenn der Westen nun weitere Patriot-Systeme in die Ukraine schickt?
Seit Jahren weise ich auf die Luftüberlegenheit der Russen hin. Sie können diese bequem aus dem russischen Luftraum heraus ausspielen, dafür müssen sie nicht mal in den Luftraum der Ukraine einfliegen. Im Westen hätte man viel früher verstehen müssen, wie hoch der Bedarf an Fliegerabwehr bei den Ukrainern ist. Patriot haben diese große Bedeutung, weil sie das Mittel sind, um Marschflugkörper und Raketen abzuschießen. Gegen Drohnen sollte man sie möglichst nicht verwenden. Der Flakpanzer Gepard etwa, den die Ukraine aus Deutschland bekommt, ist eine gute Waffe gegen Drohnen, ist aber mit der Menge überfordert. Zur Abwehr von Raketen ist er nicht in der Lage. Die Raketen sind schlicht zu schnell, da braucht es andere Fähigkeiten der Früherkennung. Patriot kann das.
Und die Patriotsysteme, die die Ukrainer nun bekommen sollen, werden die einen Unterschied machen?
Es wird Monate dauern, bis die neuen Patriots einsetzbar sind. Das ist schlimm, denn die Ukraine benötigt sie jetzt. Laut Berichten hat die Ukraine derzeit sieben einsatzfähige Patriot-Systeme in unterschiedlicher Ausprägung. Ein System besteht aus Modulen wie dem Feuerleitgerät, dem Radargerät, Aggregaten und Launchern, also Werfern - die sind das Entscheidende. Eine einsatzfähige Patriot-Batterie hat entweder vier oder acht dieser Werfer, und die können zum Beispiel je vier Abschussbehälter für Raketen haben. Wenn eine Batterie acht Werfer mit je vier Behältern umfasst, dann können Sie 32 Raketen abfeuern, bevor Sie wieder nachladen müssen. Es kursieren aber unterschiedliche Bezeichnungen für diese Module, das kann verwirrend sein. Wenn etwa Präsident Trump sagt, "Wir liefern 17 Stück", weiß keiner genau, was er meint. Sind "17 Stück" jetzt drei Batterien mit der entsprechenden Zahl an Werfern bzw. Abschussbehältern? Oder wovon spricht er? Umfang und Zeitpunkt der geplanten Lieferung sind noch unklar.
Aber Deutschland - als Ideengeber - wird sich in jedem Fall beteiligen, oder?
Deutschland soll offenbar zwei Systeme aus eigenen Beständen liefern und zukünftig neue aus den USA bekommen. Hinzu kommt vielleicht eine Batterie aus den USA, die für die Niederlande vorgesehen war, und mehrere, die die Schweizer erstmals für sich bestellt hatten. Systeme, die europäischen Staaten also zugesagt worden waren, werden Stand jetzt erstmal in die Ukraine umgeleitet. Die Europäer sollen die Systeme bezahlen.
Die neutralen Schweizer sind beteiligt, die sich bislang an nichts beteiligt haben? Musste die Schweiz der Umleitung zustimmen?
Ich glaube, der Ausdruck “zustimmen” ist hier nicht anwendbar. Als Trump den Deal bereits kundgetan hatte, wurde ein deutscher Bundeswehr-Offizier bei einer Pressekonferenz gefragt, ob er die Abgabe weiterer Batterien bestätigen könne. Die Antwort war: "Wir wissen dazu noch nichts". In Wirklichkeit stellt sich die Frage einer Zustimmung nicht. Die Amerikaner sagen, "Also ihr kriegt die Patriots jetzt nicht, ihr braucht die ja auch nicht dringend. Die gehen erstmal in die Ukraine." Das sorgt natürlich in der Schweiz für Zähneknirschen, aber die USA diktieren das einfach.
In manchen Situationen vielleicht ganz gut, ein etwas hemdsärmeliger Stil?
In die Euphorie mit Blick auf ein Umdenken von US-Präsident Trump kann ich allerdings nicht einstimmen. Ich sehe da keinen Richtungsschwenk. Trump ist enttäuscht von Putin, aber jede Unterstützung für Kiew lässt er sich schwer bezahlen. Statt etwa zehn eigene US-Systeme in die Ukraine zu schicken. Da steht er auf der Bremse, während Russland auf der anderen Seite mit Hochdruck produziert.
Eine Überlegenheit, die sich nach wie vor auch an der Front widerspiegelt?
Entlang der gesamten Front sehen wir laufende Angriffe der Russen. Das Schwergewicht liegt weiterhin im Mittelabschnitt, wo sich eindeutig sichtbar drei Kessel bilden - an Novopawliwka, Pokrowsk und Konstjantyniwka. Die Situation verschärft sich dort immer weiter, weil die Russen versuchen, die wichtigen Versorgungslinien in die Städte hinein zu unterbrechen. Wir haben schon bei Kursk gesehen: Wenn das gelingt, sind die Städte kaum zu halten. Bei Pokrowsk geht eine massive Stoßrichtung derzeit gegen die kleine Stadt Rodynske. Wenn man die erobern kann, ist eine der wichtigsten Versorgungslinien hinein nach Pokrowsk unterbrochen. Die Ukraine steht also weiter enorm unter Druck.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
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