Nach der Ankündigung von US-Präsident Donald Trump, Kiew Patriot-Systeme zu schicken, herrscht Verwirrung: Woher sollen sie kommen? Deutschland jedenfalls habe nur einen knappen Bestand, sagt Verteidigungsexperte Rafael Loss. Generell müsse Europa Gas geben, um die eigene Rüstungsindustrie auszubauen.
ntv.de: Eigentlich plante die Bundesregierung, zwei Patriot-Systeme in den USA zu kaufen und direkt in die Ukraine zu bringen. Da sie aber nicht sofort lieferbar sind, soll nun wohl die Bundeswehr zwei Systeme an die Ukraine abgeben und später Ersatz aus den USA bekommen. Ist das so einfach machbar?
Rafael Loss: Nein. Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius hatte diesen Mechanismus vor einigen Tagen eigentlich ausgeschlossen. Er sagte, dass von den neun Patriot-Systemen, die Deutschland noch hat, zwei zum Schutz des Nato-Stützpunkts am Flughafen Rzeszów im Südosten Polens stationiert sind und nicht abgezogen werden sollen. Ein System ist in der Regel immer in der Reparatur oder in der Aufbereitung, weitere werden für die Ausbildung gebraucht sowie gegebenenfalls für Lagen, die sich entwickeln. Deutschland hat kaum Kapazitäten für Patriot-Lieferungen an die Ukraine.
Also wäre es besser gewesen, Systeme direkt aus den USA zu liefern?
Eine endgültige Bestätigung, ob wirklich deutsche Systeme geliefert werden, gibt es bislang nicht. Lieferungen von Systemen aus den USA wären in jedem Fall einfacher gewesen, da Patriots dort am laufenden Band produziert werden, wenn auch nicht in ganz großer Stückzahl. Da hätte die US-Regierung einfach einige Patriots aus ihren eigenen Bestellungen oder den Bestellungen internationaler Kunden herauslösen können und diese dann zu einem späteren Zeitpunkt nachliefern. Man hätte sich auch vorstellen können, Patriots wie in der Vergangenheit aus dem israelischen Bestand zu nehmen, da die Regierung dort auf andere Systeme umsattelt.
Falls Deutschland doch aus eigenem Bestand an die Ukraine liefert, muss es sich gedulden, bis Nachschub kommt. Die Warteliste für Bestellungen beim US-Hersteller RTX ist lang. Wann kann Deutschland neue Patriots bekommen?
Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr zweimal jeweils vier Systeme bestellt, um Abgaben zu ersetzen und einen Aufwuchs zu ermöglichen. Die angepeilten Lieferungszeiträume dafür liegen zwischen 2026 und 2029. Aber mit den neuen Nato-Fähigkeitszielen braucht die Bundeswehr nochmal deutlich mehr Patriot-Systeme. Diese Bestellungen sind noch gar nicht ausgelöst.
Warum sind Patriots für die Ukraine so wichtig - und wie viele braucht sie für eine effektive Verteidigung?
Wie viele sie bräuchte, hängt davon ab, wie das Ambitionsniveau der ukrainischen Führung ist, also was genau sie durch Patriots schützen will. Für eine Stadt in der Größe von Kiew allein bräuchte es theoretisch eine höhere einstellige Zahl von Patriot-Systemen, um sie lückenlos vor Raketen schützen zu können.
Bieten die Systeme auch Schutz vor Drohnen?
Mit Patriots können theoretisch auch Drohnen abgeschossen werden. Aber wenn so ein Flugkörper für die Patriots ein bis vier Millionen Dollar kostet, macht dieser Einsatz bei einfachen Bedrohungen aus ökonomischer Hinsicht wenig Sinn. Deswegen werden Patriots in der Ukraine und anderswo dazu genutzt, den Luftraum gegen besondere Bedrohungen zu verteidigen, etwa gegen die russische Hyperschall-Luft-Boden-Rakete Kinschal. Für weniger komplexe Bedrohungen wie Drohnenangriffe organisiert sich die Luftverteidigung mit anderen Systemen.
Am kommenden Mittwoch wollen sich Staaten treffen, die Patriot nutzen, heißt es in Brüssel. Bei dem Treffen soll geklärt werden, welches Land Systeme an die Ukraine abgeben könnte, die dann von den USA ersetzt werden. Haben denn andere Staaten noch Luft, um Patriots an die Ukraine abzugeben?
Kaum. Das ist eine ständig laufende Diskussion, auch im Rahmen der Ramstein-Konferenzen. Wenn Russland besonders schwerwiegende Luftangriffe auf die Ukraine startet, werden die Unterstützerländer regelmäßig gebeten, in ihren Arsenalen nachzugucken, ob sich da nicht doch noch ein Radar findet, ein paar Abschussrampen oder Abfangflugkörper. Durch neue Rüstungsbestellungen gibt es vielleicht auch an der einen oder anderen Stelle eine neue Kapazität. Aber insgesamt sind die Bestände nicht groß in Europa.
Angesichts all dieser Komplikationen: Hat Trump mit seiner Patriot-Ankündigung nun eine Kehrtwende in seiner Unterstützung der Ukraine vollzogen - oder folgt er doch nur seinem Credo, Deals zu schließen und den Europäern die finanzielle Last aufzubürden?
Ich halte es für begrüßenswert, dass Trump sich beim Auftritt mit Nato-Generalsekretär Mark Rutte empathisch gegenüber der Leiden der Ukraine gezeigt hat. Zweitens kann sich Deutschland auf relativ robuste Beziehungen zu den USA verlassen, zwischen Trump und Kanzler Friedrich Merz sowie den Verteidigungs- und Außenministern beider Länder. Aber eine Kehrtwende würde ich erst sehen, wenn Trump neue Hilfen für die Ukraine beschließen würde. Die Wahrscheinlichkeit dafür liegt nahezu bei null. Trumps Patriot-Ankündigung dient zunächst einmal nur seinem geschäftlichen Interesse.
Schon vor Trumps Amtsantritt hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angeboten, den USA mehr Waffen abzukaufen, um einen drohenden Handelskrieg abzuwehren. Wie haben sich die Waffenkäufe der Europäer in den USA entwickelt?
In einigen Ecken Europas hegt man die Hoffnung, Trump durch Einkäufe bei der US-Rüstungsindustrie positiv für europäische Verteidigungsambitionen zu stimmen und damit die Vereinigten Staaten in der Nato an Bord zu halten. Deutschland etwa meldet Bedarf bei der US-Rüstungsindustrie an und will neben Patriots voraussichtlich auch über den Kauf zusätzlicher F-35-Kampfjets oder Typhon-Raketensystemen verhandeln. Aber diese Hoffnung wird nicht von allen europäischen Ländern geteilt.
Von welchen denn nicht?
Frankreich etwa hat angekündigt, sich nicht an diesen Käufen für die Ukraine in den USA beteiligen zu wollen. Das entspricht der französischen Linie, europäische Steuergelder in Europa zu belassen und hier in den Aufwuchs einer Verteidigungsindustrie zu investieren. Das ist kein falscher Ansatz. Aber da ist ein Spannungsverhältnis: In Europa zu investieren bedeutet, lange Lieferzeiten in Kauf zu nehmen, da es hier weniger Kapazitäten für die Rüstungsproduktion gibt.
Diese "Buy European"-Strategie, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verfolgt, scheitert also bislang am Mangel an Kapazitäten?
Genau. Andererseits: Irgendwann muss man damit anfangen, denn sonst ist man nie an dem Punkt, die notwendigen Rüstungskapazitäten in Europa zu haben. Das ist ein nicht auflösbarer Zielkonflikt. Es ist eine Entscheidung auf politischer Ebene, tatsächlich in Europa zu investieren, um die europäische Souveränität, europäische Arbeitsplätze und die europäische Innovationsfähigkeit zu stärken. Die Verteidigungsindustriestrategien und -förderprogramme, die die EU in den letzten Monaten angekündigt hat, sollen laut ihren Plänen für den kommenden Mehrjährigen Finanzrahmen ab 2028 mit wesentlich mehr Geld ausgestattet werden.
Der Haushaltsentwurf der Kommission für den mehrjährigen Finanzrahmen wird in den kommenden Jahren vom Europaparlament und dem Rat der europäischen Staats- und Regierungschefs verhandelt. Laut diesem ersten Plan sind 131 Milliarden speziell für Verteidigungsausgaben vorgesehen. Reicht das aus für große Projekte wie den Aufbau eines Rüstungsbinnenmarkts?
Durch die Verhandlungen zwischen Parlament und Rat wird sich noch vieles an dem Vorschlag verändern. Vielleicht steht am Ende tatsächlich ein Topf mit 131 Milliarden Euro. Ob die Summe ausreicht, hängt davon ab, wie ambitioniert die Rolle der EU bei gemeinsamen Rüstungsprojekten sein soll. Bislang hat sich die EU eher als Dienstleister gesehen, sowohl für die Verteidigungsambitionen der europäischen Regierungen als auch im Kontext der Nato. Aber die EU hatte kaum ein Budget für die gemeinsame Entwicklung und Beschaffung von militärischen Fähigkeiten. Sie ist also regelmäßig daran gescheitert, dass sie nicht genug Geld hatte, um Dinge zu forcieren. Der Entwurf der Kommission zeigt, dass sich das ändern soll. Aber ob es dazu kommt, hängt von den Verhandlungen der nächsten Jahre ab.
Mit Rafael Loss sprach Lea Verstl
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke