Im Zuge der Migrationskrise 2015 floh der damals 21-jährige Ryyan Alshebl aus Syrien nach Deutschland. Der 31-jährige Druse ist inzwischen eingebürgert und seit 2023 Bürgermeister der schwäbischen Gemeinde Ostelsheim (Baden-Württemberg) – der erste syrischstämmige Rathauschef in Deutschland. Er ist Grünen-Mitglied, trat zur Bürgermeister-Wahl aber als parteiunabhängiger Kandidat an.
WELT: Herr Alshebl, was passiert derzeit in der Region Suwaida in Südsyrien?
Alshebl: In Suwaida findet aktuell ein Angriff auf die drusische Minderheit in Syrien statt, eine regelrechte ethnische Säuberung. Regierungstruppen, bestehend aus islamistischen Milizen, sind mit Panzern in die Region vorgedrungen und haben Zivilisten angegriffen – Frauen, Kinder, ältere Menschen wurden dabei gezielt getötet. Innerhalb weniger Stunden wurden schreckliche Gräueltaten verübt: Häuser bombardiert, Menschen erschossen.
Ein Beispiel: Fünf Soldaten betraten ein traditionelles drusisches Gästehaus – „Madafe“ –, tranken freundlich Kaffee mit den Bewohnern und erschossen danach alle 15 Menschen, die sich im Raum befanden. Es sind grausame Szenen, wie man sie sonst nur aus Massakern kennt.
WELT: Warum geht die Regierung so brutal gegen die eigene Bevölkerung vor? Was steckt dahinter?
Alshebl: Weil hinter der syrischen Regierung heute Islamisten stecken – dieselben Kräfte, die noch vor wenigen Monaten offen als Dschihadisten gegen ethische und religiöse Minderheiten in der Region kämpften. Präsident Al-Scharaa hat diese Extremisten in die Armee integriert und präsentiert sie als reguläres Militär, doch in Wirklichkeit behalten die Kommandeure ihre radikale Ideologie bei. Sie betrachten Drusen und andere Minderheiten schlicht als Ungläubige.
Dadurch ist eine Lage entstanden, die stark an ethnische Säuberungen erinnert. Minderheiten wie die Drusen, Christen und Alawiten kämpfen jetzt ums Überleben, weil sie der neuen Regierung niemals vertrauen können. Die Region steht vor einer Katastrophe, wenn die internationale Gemeinschaft nicht handelt.
WELT: Wie hat sich die Lage für Minderheiten wie Drusen, Christen oder Alawiten seit dem Machtwechsel in Damaskus verändert?
Alshebl: Massiv verschlechtert. Ich gebe offen zu: Direkt nach dem Sturz von Baschar al-Assad im Dezember 2024 war ich euphorisch und glaubte, jetzt würde alles besser. Aber ich war naiv. Heute fühlt sich keine Minderheit mehr sicher – weder Drusen noch Christen oder Alawiten. Jeder lebt in Angst.
Dass Deutschland trotzdem bereit ist, mit dieser Regierung Abkommen zu schließen, nur um Flüchtlinge zurückzuführen, finde ich unerträglich. Von der Bundesregierung kam bislang kein Wort der Kritik, nicht einmal eine floskelhafte Verurteilung der Verbrechen gegen Minderheiten. Erst als Israel eingriff und die Gefahr eines größeren Krieges drohte, regte sich international etwas Aufmerksamkeit. Aber was derzeit den Drusen angetan wird, interessiert hier in Deutschland offenbar niemanden.
WELT: Wie kann es sein, dass die Drusen trotz der Gräueltaten gegen sie nun von Teilen der syrischen Bevölkerung als Verräter bezeichnet werden?
Alshebl: Die syrische Regierung hat Tausende islamistische Kämpfer nach Suwaida geschickt, um die Region mit Gewalt unter Kontrolle zu bringen. Doch die Drusen leisteten heftigen Widerstand, unterstützt durch das Eingreifen Israels, das militärisch gegen die Regierungstruppen vorging. Für das Regime und seine Anhänger ist das eine Demütigung – eine Minderheit, die sich erfolgreich wehrt. Deshalb versuchen sie jetzt, die Drusen öffentlich als Verräter zu brandmarken. Viele meiner sunnitischen Freunde verurteilen das scharf, doch ein harter Kern der Regierung verbreitet gezielt Hass gegen die Drusen.
WELT: Sie haben einen Appell an Bundeskanzler Friedrich Merz und Außenminister Johann Wadephul (beide CDU) geschickt – was genau fordern Sie?
Alshebl: Die Bundesregierung muss Syriens Regierung klar signalisieren: Wenn sie nicht sofort zu einer Politik findet, in der Minderheiten sicher leben können, dann gibt es keine Unterstützung mehr. Deutschland und Europa müssen Konsequenzen ziehen – entweder klare Sanktionen oder ein Ende der finanziellen Hilfen. Ich habe mich selbst politisch stark dafür eingesetzt, Entwicklungshilfe für Syrien freizugeben, um den Wiederaufbau zu unterstützen. Doch die aktuelle syrische Regierung ist eine Gefahr für die gesamte Region. Das darf Europa nicht tolerieren, egal, wie dringend wir die Flüchtlingszahlen reduzieren wollen. Wenn Deutschland jetzt nicht handelt, drohen langfristig nur noch mehr Fluchtbewegungen.
WELT: Welche konkreten Maßnahmen erhoffen Sie sich von den Vereinten Nationen und der EU?
Alshebl: Wir brauchen dringend humanitäre Hilfe, denn Suwaida steht vor dem Kollaps. Krankenhäuser funktionieren nicht mehr, die Stadt ist teilweise zerstört, und es gab schwere Massaker. Wer sich jetzt noch öffentlich als Druse zu erkennen gibt, riskiert sein Leben. Nach Israels Eingreifen werden Drusen in syrischen Medien als Verräter gebrandmarkt, und Händler aus sunnitischen Gebieten weigern sich inzwischen, mit ihnen Handel zu treiben. Es reicht offenbar nicht, Opfer zu sein – sie werden zusätzlich noch ausgegrenzt und gequält. Die internationale Gemeinschaft darf hier nicht zuschauen, sondern muss sofort eingreifen und helfen.
WELT: War es ein Fehler, dass westliche Staaten die HTS – also die ehemalige Al-Qaida-nahe Miliz, die heute Syrien kontrolliert – sowie den ehemaligen Milizanführer und heutigen Präsidenten Ahmed al‑Scharaa von der Terrorliste gestrichen und die Sanktionen gelockert haben?
Alshebl: Grundsätzlich bin ich dafür, Chancen zu geben, und habe deshalb zunächst auch begrüßt, dass Sanktionen aufgehoben wurden, weil diese vor allem die syrische Bevölkerung trafen. Aber bei der HTS hätte man vorsichtiger sein müssen. Diese Leute handeln extrem grausam – hier müssen gezielt Sanktionen gegen Verantwortliche verhängt werden, nicht pauschal gegen die Bevölkerung.
WELT: Israel greift aktuell in Syrien militärisch ein – offiziell, um die Drusen zu schützen. Ist das ein glaubwürdiges Schutzversprechen oder droht hier eine erneute Eskalation?
Alshebl: Israel handelt natürlich aus eigenen Sicherheitsinteressen heraus, nicht nur aus Solidarität mit den Drusen. Die israelische Regierung will vor allem verhindern, dass Südsyrien erneut militarisiert wird und schwere Waffen dort stationiert werden. Gleichzeitig wissen alle, dass die Regierung Netanjahu politisch davon profitiert, regelmäßig Stärke zu zeigen.
Syrien wiederum hat derzeit keinerlei militärische Kapazitäten, um sich ernsthaft gegen Israel zur Wehr zu setzen – die Infrastruktur ist seit Assads Sturz praktisch zerstört. Die syrische Regierung möchte deshalb keinesfalls eine offene Konfrontation mit Israel. Ob daraus dennoch eine Eskalation entsteht, hängt letztlich allein von Israels nächstem Schritt ab. Klar ist jedoch: Nach diesen jüngsten Angriffen auf Suweida wird Syrien nicht mehr dasselbe Land sein wie zuvor.
WELT: Fühlen Sie sich als Druse aktuell von Deutschland, Europa und der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen?
Alshebl: Absolut. Ich fühle mich furchtbar im Stich gelassen. Offenbar zählen kurzfristige politische Interessen mehr als echter Minderheitenschutz, der ein Schlüssel für Stabilität wäre. Wie viele Beweise brauchen wir denn noch? Wir haben gesehen, wie grausam al-Scharaas Regierung gegen Alawiten und Christen vorgegangen ist – und jetzt erleben wir die Gewalt gegen die Drusen. Es wird höchste Zeit, dass Deutschland und Europa erkennen, dass diese Regierung Probleme schafft, statt sie zu lösen.
Maximilian Heimerzheim ist Volontär im Innenpolitik-Ressort.
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