Nach der gescheiterten Verfassungsrichterwahl am vergangenen Freitag diskutieren die Gäste bei Markus Lanz über den Zustand der Bundesregierung und der Debattenkultur in Deutschland. Grünen-Fraktionschefin Haßelmann ist noch immer entsetzt und fordert, die Wahlen noch in der Sommerpause anzusetzen.

Der Streit um die Verfassungsgerichtskandidatin Frauke Brosius-Gersdorf hält die Politiklandschaft weiter in Atem und ist auch wieder Thema in der ZDF-Talkshow Markus Lanz. Dort hatte Brosius-Gersdorf am Vorabend bereits versucht, die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu entkräften. Am Mittwoch hatten sich ihre Anwälte zu einem Plagiatsvorwurf geäußert. Er sei haltlos, hieß es. Am Mittwochabend hat Lanz unter anderem die Grünen-Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann eingeladen. Sie hatte am vergangenen Freitag anlässlich der zunächst gescheiterten Wahl der Kandidaten für das Bundesverfassungsgericht schwere Vorwürfe gegen Unions-Fraktionschef Jens Spahn erhoben, von einer Schmutzkampagne gesprochen.

Auch Christoph Ploß ist da. Er ist einfacher Bundestagsabgeordneter der CDU aus Hamburg. Und er ist offenbar der einzige, der sich im Moment zum Streit in der Union äußern möchte, der in der vergangenen Woche zu diesem Thema entbrannt ist. "Dass hier niemand aus der Führung der CDU sitzt, spricht für sich", sagt "Welt"-Journalist Robin Alexander gleich zu Beginn der Sendung. "Der Urfehler dieser ganzen Kiste ist in der CDU gemacht worden. Die Unionsführung hat eine Zusage gemacht, die sie nicht einhalten konnte, weil sie nicht wusste, wie die eigenen Leute ticken. Und das will man nicht erklären. Deshalb erklären wir es jetzt", verspricht der Journalist.

Christoph Ploß hat den Auftritt Brosius-Gersdorfs bei Markus Lanz am Vortag gesehen. "Ich fand, die entscheidende Frage über den Umgang mit der Würde des Menschen ist weiter nicht zufriedenstellend beantwortet worden. Sie hat zwar einige Positionen etwas relativiert, wenn man sich Äußerungen anschaut, die sie noch im Rechtsausschuss des Bundestages im Februar dieses Jahres getätigt hat und auch in den vergangenen Jahren. Aber das, was für die Union der Kern ist, die Würde des Menschen ganz nach vorne zu stellen, ist nicht ganz zufriedenstellend beantwortet worden, auch wenn ich den Auftritt ruhig und auch an einigen Stellen sachlich fand."

Ploß spricht hier die Haltung Brosius-Gersdorfs zum Thema Abtreibung an. Frauen können Embryos in den ersten drei Monaten abtreiben lassen. Das ist zwar strafbar, wird aber nicht geahndet. Brosius-Gersdorf vertritt die Auffassung, dass in der Frühphase der Schwangerschaft das Recht der Frau gegenüber dem des Embryos überwiegt. Je weiter die Schwangerschaft voranschreitet, desto mehr Wert müsse auf das Leben des Embryos gelegt werden.

Haßelmann hat "großen Respekt"

"Ich fand ihren Auftritt sehr gut", sagt Britta Haßelmann von den Grünen. "Ich habe großen Respekt davor, dass sie sich das getraut hat." Das Gespräch sei sehr nachdenklich gewesen. "Ich fand ihre Ausführungen in der Sache sehr exzellent und klarstellend. Sie ist eine hervorragende Juristin. Und ich fand, alle, die Interesse haben an der Frage, was bedeutet eigentlich Abwägung des Rechts, haben gestern einen guten Eindruck bekommen." Brosius-Gersdorf habe versucht, nach der Kampagne gegen sie ihre Ehre zurückzuholen.

Melanie Amann ist Juristin und stellvertretende Chefredakteurin des "Spiegel". Brosius-Gersdorf sei zu Beginn der Sendung sehr angespannt gewesen, hat sie beobachtet. "Je weiter sie sich dann inhaltlich mit ihren Positionen befasst und sie vorgetragen hat, merkte man, wie sie schrittweise an Sicherheit zurückgewann. Aber auch ich als Juristin hatte teilweise Schwierigkeiten zu folgen oder fand es kompliziert, wie sie es dargestellt hat." Sie habe sich gefragt, "wie viele Menschen da draußen das so nachvollziehen, verinnerlichen konnten und was das jetzt für die politische Debatte bedeuten kann". Auch Amann hält es für möglich, dass sich Brosius-Gersdorf mit ihrem Auftritt bei Lanz ihre Ehre zurückholen wollte, jedoch dass ihr klar gewesen sei: Nach Karlsruhe an das Bundesverfassungsgericht werde Brosius-Gersdorf nicht gehen. "Aus meiner Sicht spricht viel dafür, dass sie nicht Verfassungsrichterin wird", sagt Amann. Die Thesen der Kandidatin lägen jetzt auf dem Tisch, doch einige Unions-Abgeordnete könnten immer noch nicht damit umgehen.

"In der politischen Einschätzung ist es eher schwieriger geworden, dass sie jetzt Richterin wird", gibt Robin Alexander seiner "Spiegel"-Kollegin recht. "Die Leute, die sie wählen müssen, sind die Leute in der Unionsfraktion. Und die Abgeordneten haben einen Konflikt mit ihrer eigenen Führung riskiert, um das nicht zu tun. Und so etwas machen Abgeordnete ja sowieso nicht schnell, und Unionsabgeordnete schon gar nicht." Für die Zuschauer habe die Lanz-Sendung eine aufklärerische Wirkung gehabt, gibt Alexander zu. "Aber die entscheidenden Leute in der Union haben da schon eine differenziertere Meinungsbildung gehabt."

"Ich hätte sie auch nicht gewählt"

Die Unionsabgeordneten haben sich laut Ploß erst vor anderthalb Wochen mit den Argumenten Brosius-Gersdorfs befasst. Erst nach Beginn der öffentlichen Diskussion hätten sich viele Abgeordnete die Dokumente angeschaut. Mit der Diskussion um die Würde des Menschen sei ein Kern der Union berührt worden. Zudem hatte sich Brosius-Gersdorf zum Beispiel auch zur Frauenquote bei Wahllisten geäußert, und das lehnten viele Abgeordnete ab. "Ich habe auch meine Bedenken kundgetan. Ich habe auch sehr dafür geworben, dass wir die Abstimmung nicht in dieser Woche durchführen, weil man gemerkt hat, es gibt viel Gesprächsbedarf." "Wie hätten Sie abgestimmt?", hakt Markus Lanz nach. "Ich hätte sie auch nicht gewählt", antwortet Ploß.

Haßelmann ist entsetzt. "Wenn ich mir vorstelle, dass eine so wichtige Frage wie die Richterwahlen für das Bundesverfassungsgericht so dilettantisch vorbereitet werden, dass Ihre Fraktion da am Montag bis Freitag reinstolpert, dann ist das ein eklatantes Führungsversagen von Jens Spahn, dem Fraktionsvorsitzenden." Haßelmann habe vor fast sechs Wochen mit den Fraktionschefs zusammengesessen, sagt sie. "Ich kann das wirklich nicht verstehen, dass man von seinem eigenen Führungsversagen so ablenkt, indem man so eine Geschichte konstruiert."

Bereits Anfang Juni hätten die Fraktionsvorsitzenden zusammengesessen und sich auf die Kandidatinnen und Kandidaten geeinigt. "Und dann sitze ich da am Freitag, und dann wird mir der Eindruck vermittelt, die CDU ist noch nicht ganz so weit, und außerdem ist es ein Vorschlag der SPD." Haßelmann wirft Spahn verantwortungsloses Verhalten vor. Sie selbst habe Mitte Juni begonnen, ihre Fraktion auf die Wahlen vorzubereiten.

"Wir sind uns einig, dass der Prozess nicht optimal gelaufen ist", erwidert Ploß. "Die Vorbehalte, die es gibt, hätte man in einem kleineren Kreis adressieren müssen." Spahn habe frühzeitig mit der SPD gesprochen, weil klar gewesen sei, dass die Wahl scheitern könnte. Man hätte sich rechtzeitig auf einen anderen Kandidaten einigen müssen, so der CDU-Politiker.

"Ganz schnell zur Richterwahl kommen"

Doch das, was am vergangenen Freitag im Bundestag passiert ist, wird Auswirkungen auf die nächsten Wahlen haben. Melanie Amann befürchtet: "Wir haben jetzt die letzte normale Bundesverfassungsrichterwahl erlebt. Es wird ab jetzt alles anders sein bei künftigen Verfassungsrichterwahlen." Jeder Verfassungsrichter, der sich nun mit prägnanten politischen Fragen an die Öffentlichkeit wende, würde sich jetzt aus Gewissensgründen angreifbar machen. "Die Politik, Union wie SPD, haben Frau Brosius-Gersdorf richtig hängenlassen. Es gab ja nie eine wirkliche Solidaritätsbekundung gegen diese Angriffe, denen sie ausgesetzt war." Und sie fragt: "Welcher Wissenschaftler soll sich dem aussetzen?"

Wie kann es jetzt weitergehen? Hier hat Britta Haßelmann eine besondere Forderung: "Ich bin der Auffassung, wir müssten jetzt ganz schnell im Bundestag auf allen Ebenen Gespräche führen. Und wir müssten jetzt ganz schnell, vor September, zu einer Richterwahl kommen." Jetzt gebe es eine Hängepartie für die drei Karlsruhe-Kandidaten, die bereits mit Zweidrittelmehrheit im Richterwahlausschuss gewählt sind, und es stehe die Frage im Raum, wie belastbar die Regierung sei. Der Streit in der Koalition sei ernst, eine weitere Kampagne gegen die zweite von der SPD vorgeschlagene Kandidatin laufe gerade an, so Haßelmann. "Und die CDU muss klären, ob sie sich treiben lässt von AfD-nahen rechten Netzwerken."

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