Als die Menschen in Bulgarien vor fünf Jahren auf die Straße gingen, um gegen Korruption in der Regierung zu demonstrieren, wirkte das wie der Beginn einer neuen Ära. Das aus den Protesten entstandene Bündnis „Wir setzen den Wandel fort“ stellte später mit den politischen Quereinsteigern und Harvard-Absolventen Kiril Petkow und Assen Wassilew an der Spitze den Premier- und Finanzminister und brachte Reformen für Rechtsstaat und wirtschaftliche Stabilität auf den Weg.
Die Erfolge sind historisch. Im Januar tritt Bulgarien der Euro-Zone bei. Bereits seit diesem Jahr ist das EU-Land Mitglied des Schengen-Raumes – auch weil die Reformer mafiöse Strukturen aus Kriminellen, Staatsbediensteten und Firmen an der EU-Außengrenze zur Türkei öffentlich gemacht und bekämpft hatten. Dafür wurden Mitglieder von „Wir setzen den Wandel fort“ von der organisierten Kriminalität bedroht, wie auch WELT berichtete. Es waren keine Einzelfälle in dem Land, das in Korruptions-Ranglisten in der EU ganz unten steht.
Aber hinter den Kulissen der Fortschritte hat sich eine mächtige Gegenbewegung formiert, in der alte Seilschaften zwischen Politik und Justiz wieder an Macht gewinnen. Oppositionspolitiker und Kämpfer gegen Korruption sehen sich verfolgt und sprechen hinter der Hand bereits von Zuständen wie in der Diktatur Belarus, in der Gegner weggesperrt werden. Korruption öffnet seit jeher auch dem Kreml ein Einfallstor in das am Schwarzen Meer strategisch wichtig gelegene Nato-Land.
Denn trotz des damaligen Aufbruchs nach den Protesten waren die politischen Verhältnisse instabil geblieben. Allein in den vergangenen vier Jahren wurde in Bulgarien sechsmal neu gewählt. Das Parteiensystem ist zersplittert, was auch Ausdruck zweier Lager in der Bevölkerung ist. Die eine Hälfte wünscht sich eine tiefere Integration in der EU, die andere sucht traditionell die Nähe zu Russland. Dass Premier Pektkow nach Russlands Überfall entschieden die Ukraine unterstützte, auch mit Waffenlieferungen, und das Nato-Land Bulgarien aus dem Griff russischer Energie-Oligarchen löste, bescherte seiner Partei zahlreiche Gegner.
Seit 2024 lenkt mit Premierminister Rossen Scheljaskow wieder ein Politiker der konservativen Partei GERB das Land. Mächtiger Vorsitzender ist Bojko Borrissow, der vor den Protesten im Jahr 2020 selbst Regierungschef war und unter dessen Herrschaft die Korruption und die Entwendung von EU-Mitteln blühte. Trotzdem ist GERB seit jeher Teil der Europäischen Volkspartei (EVP), zu der auch die deutschen Unionsparteien CDU und CSU gehören.
Als jüngstes Zeichen der Repression gilt die Verhaftung von Blagomir Kotsew Bürgermeister der geopolitisch wichtigen Schwarzmeer-Hafenstadt Warna. Der 54-jährige Ökonom, ebenfalls Mitglied des Bündnisses „Wir setzen den Wandel fort“, wurde am 8. Juli vor einer Haushaltsabstimmung verhaftet. Der Vorwurf: Er sei „Teil einer kriminellen Gruppe“, wird der Korruption und der Geldwäsche beschuldigt.
Seine Frau Camilla schilderte auf Facebook, wie die Beamten stundenlang auch das Zimmer ihres zweijährigen Sohnes und ihrer kürzlich geborenen Tochter durchsuchten. Kotsew sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis in Sofia, eine gerichtliche Anhörung ist für den heutigen Donnerstag geplant.
Einen „klaren Fall politischer Verfolgung und einen gefährlichen Missbrauch staatlicher Macht“, sieht darin die liberale Fraktion „Renew Europe“ im EU-Parlament, zu der auch „Wir setzen den Wandel fort“ gehört. Die Vorwürfe gegen Kotsew seien „haltlos“, Bulgariens Generalstaatsanwaltschaft und die Anti-Korruptionskommission würden „zunehmend zum Instrument politischer Unterdrückung“, heißt es in einer Stellungnahme, die eine „unverzügliche Freilassung“ des Bürgermeisters fordert.
Die deutsche Europaabgeordnete Svenja Hahn (FDP) schreibt in einem Brief an die EU-Kommission, in Bulgarien häuften sich in den vergangenen Monaten Fälle einer „alarmierenden Entwicklung politischer Einmischung in Justizangelegenheiten“ und sie warnt vor der „zunehmenden Nutzung präsidialer Macht zur Verfolgung von Oppositionellen.“
Diese Vorwürfe werden nicht nur aus dem politischen Raum erhoben. Auch Andrey Yankulov, Rechtsexperte beim Anti-Corruption-Fund, einer Nicht-Regierungsorganisation, die unter anderem von der Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt wird, spricht gegenüber WELT von einem „Muster“, das darauf schließen lasse, dass die Justizbehörden als „Werkzeug in den Händen der Machthaber“ missbraucht würden.
Immer wieder taucht in dem Zusammenhang der Name des Oligarchen und Politikers Deljan Peewski auf. Seine Partei „Neuer Anfang“ stützt in der aktuellen Dreier-Koalition in Bulgarien die Regierung. Der 44-jährige Peewski ist seit Jahren von den USA unter dem Magnitsky Act sanktioniert, der Verstöße gegen Menschenrechte weltweit ahndet. Ihm werden „regelmäßige Korruption“, „Einflussnahme und Bestechung zum Schutz vor öffentlicher Kontrolle“ und „Ausübung von Kontrolle über wichtige Institutionen und Sektoren der bulgarischen Gesellschaft“ zugeordnet.
Die Verfahren folgen einem Muster
Investigative Journalisten werfen ihm den Diebstahl von EU-Mitteln in Millionenhöhe, Verwicklung in Gewaltverbrechen, Schmuggel und korrupte Kontakte nach Moskau vor. Die europäische Staatsanwältin Teodora Georgieva sagte in einem Interview, sie sei während Ermittlungen zum Missbrauch von EU-Mitteln von dem Oligarchen bedroht worden. Aber ein Gerichtsverfahren gegen Peewski gab es in Bulgarien nie.
Erst kürzlich betonte der GERB-Vorsitzende Borrisow die gute Zusammenarbeit mit Deljan Peewski. Er könne sich auf die Stimmen seiner Abgeordneten „verlassen“, sagte Borrisow in einem Interview und gab als gemeinsames Ziel einen reibungslosen Euro-Beitritt an. Borrisow ist bekannt dafür, dass er Signale sendet, die man in Brüssel gerne hört. Allerdings könnte Bulgarien als Euro-Mitglied mit massiven Rechtsstaatsdefiziten noch zum viel größeren Problem werden.
Kritiker vermuten, dass Peewski im Gegenzug für seine politische Unterstützung Einfluss auf das Justiz-System erhält, um seine Interessen durchzusetzen und Gegner aus dem Weg zu räumen. Der Anti-Corruption-Fund stellt seit Amtsantritt der neuen Regierung im Jahr 2024 eine Häufung von Verfahren gegen Oppositionelle fest, in allen Fällen handele es sich bei den Verdächtigen „ausnahmslos um politische Gegner von Deljan Peewski“, so der Bericht der NGO.
Die meisten Verfahren folgten dabei einem Muster. Vermeintliche Beweise würden stets einigen Medien zugespielt, das „eigentliche Ziel“ bestehe darin, politische Gegner „öffentlich zu diskreditieren“ sowie andere Personen in Abhängigkeit zu halten und ihnen die „Konsequenzen vor Augen zu führen“, falls sie sich abweichend verhalten würden, so der Bericht.
Auffällig ist zudem, dass Peewski seit Monaten im Rahmen einer Initiative zur „regionalen Entwicklung“ Bürgermeister und Kommunalpolitiker besucht und sich mit ihnen fotografieren lässt. Dass er hart gegen jene vorgeht, die sich einer Zusammenarbeit mit ihm verweigern – wie wohl auch im Fall des inhaftierten Bürgermeisters von Warna – ist eine Vermutung, die unabhängige Journalisten in Bulgarien schon lange äußern.
Der frühere Premierminister Kiril Petkow sagte WELT, die Macht von Peewski beruhe auf „einem korrupten Deal mit Borrisow“ von der Partei GERB. „Diese Vereinbarung lähmt sogar den derzeitigen bulgarischen Ministerpräsidenten, der ohne die Zustimmung des sanktionierten Oligarchen nicht regieren kann.“
Nach Petkows Ansicht geht es aber noch um eine viel größere Sache. Den Einfluss Russlands auf das strategisch wichtige Nato-Land. Sein Bündnis „Wir setzen den Wandel fort“ hatte während seiner Amtszeit viele Fälle von Bestechung von Amtsträgern aus dem Kreml öffentlich gemacht. Eine ehemalige Beraterin seines Amtsvorgängers Borrissow fuhr etwa einen SUV, der von einer Energiefirma bezahlt wurde, die aus Russland gesteuert wurde.
Bulgarien wird von russischer Desinformation geflutet
In Borrisows Amtszeit blieb Bulgarien zu 100 Prozent abhängig von russischem Gas, obwohl die mit Steuergeldern gebaute Pipeline Turkish Stream nur einen Anschluss über Griechenland gebraucht hätte, um Lieferungen aus anderen Ländern beziehen zu können. Petkow ließ später sogar Borrissow verhaften, aber die bulgarischen Strafverfolger ließen ihn wieder frei.
Seit Jahren wird Bulgarien zudem mit russischen Kampagnen zur Desinformation geflutet. „Putin setzt Korruption als außenpolitisches Mittel ein“, sagt Petkow – es seien „dieselben Menschen, die morgens aufwachen und etwas vom Staat stehlen wollen, und jene, die Geschäfte mit dem Regime in Moskau machen“.
So bezeichnet Petkow den Oligarchen Peewski dann auch als „Diener Putins“. Etwa verhindere Peewski derzeit wichtige Hilfen für die Ukraine, darunter den Verkauf von Atom-Reaktoren, die Kiew seit Langem für die Energiesicherheit der Ukraine kaufen will. Wie „Euractiv“ kürzlich berichtete, lehnte Bulgarien aber „überraschend“ den Verkauf jener zwei Reaktoren russischer Bauart ab, die jahrelang an einem Standort nahe der Donau gelagert hatten, weil die Regierung vor Jahren ihre Pläne zum Bau eines Kraftwerkes dort aufgegeben hatte. Auch hinter der Verhaftung des Bürgermeisters von Warna vermutet Ex-Premier Petkow geopolitische Interessen. Der Schwarzmeer-Hafen ist ein wichtiger Faktor für die Sicherheit der Nato-Ostflanke.
„Der Fall Peewski offenbart das Versagen Europas, Putins Agenten innerhalb seiner eigenen Institutionen entgegenzutreten“, sagt Petkow. In der Verantwortung sieht er auch die Europäische Volkspartei EVP, die vor diesen Vorgängen die Augen verschließe. „Putins Erfolg hängt von Figuren wie Peewski ab“, sagt Petkow – und das Überleben Europas davon, „dass sie gestoppt werden.“
Managing Editor Philip Volkmann-Schluck berichtet für WELT über internationale Politik mit einem besonderen Fokus auf den Nahen Osten, China und Südosteuropa.
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