US-Präsident Donald Trump und Nato-Generalsekretär Mark Rutte verkünden gemeinsam “massive” Waffenlieferungen für die Ukraine. Gemeinsam heißt - die USA liefern, Europa zahlt. US-Waffen wie weitreichende Fliegerabwehr, Raketen oder Munition sollen Nato-Länder wie Deutschland kaufen und in die Ukraine schicken. Auch Patriots sollen dabei sein, doch die Waffen allein bewirken noch nichts. Entscheidend wird die Munition. Oberst Reisner erklärt, was die Ukraine braucht, um sich wirklich zu schützen.

ntv.de: Herr Reisner, mit den "massiven Waffenlieferungen" der Nato aus US-Produktion sollen auch mehr Patriot-Systeme zur Fliegerabwehr in die Ukraine kommen. Wird das Land bald vor russischen Raketen geschützt sein?

Markus Reisner: Wir sehen, dass die massiven russischen Luftangriffe auf ukrainische Städte nicht ohne Folgen bleiben. Angriffe mit über 700 Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen waren in den letzten Tagen die Regel und nicht die Ausnahme. Die zugesagten und dringend benötigten Patriot-Systeme helfen der Ukraine gegen Marschflugkörper und Raketen. Für die billigen russischen Geran-2 Drohnen sind die Patriot-Abfangraketen jedoch zu teuer. Hier braucht es weitere Systeme, vor allem kurzer Reichweite. Trumps Ankündigungen können daher nur der Anfang sein.

Die Chemie zwischen US-Präsident Donald Trump und Kreml-Chef Wladimir Putin stimmt nicht mehr. Hat Putin überreizt mit seinen massiven Luftangriffen?

Aus dem jüngsten Telefonat Trumps mit Putin haben wir unter anderem erfahren, dass Putin seine Angriffsanstrengungen in den kommenden 60 Tagen weiter erhöhen will. Vor allem will er mit seiner laufenden Sommeroffensive alle von ihm beanspruchten Oblaste zur Gänze erobern oder sogar bis zum Dnepr vorstoßen. Dazu passt die Aussage des Leiters des ukrainischen Militär-Geheimdienstes, General Kyrylo Budanov. Seitens des Kreml erkennt auch er den Plan, insbesondere in der Oblast Dnipropetrowsk weiter vorzudringen und die geplante "Pufferzone" bis in diese Oblast zu ziehen. Diese unnachgiebigen Äußerungen Putins dürften Trump schließlich vor den Kopf gestoßen haben. Nun kündigt er drastische Maßnahmen an, quasi den Einsatz des amerikanischen Vorschlaghammers.

Wie lässt sich erklären, dass Putin hier plötzlich so deutlich wurde und nicht mehr die Strategie fährt, sich wenigstens zum Schein verhandlungsbereit zu zeigen?

Hier muss ich ernüchtern. Wenn Sie in die russischen sozialen Medien schauen, auf die Berichterstattung der letzten Monate, dann bekommen Sie ein ganz anderes Bild als das, was man bei uns glaub zu erkennen. In Russland herrscht Unnachgiebigkeit. Zwar hat Trump von Beginn an signalisiert, wenn Putin und er, also die beiden starken Männer, miteinander reden, würden sich die Dinge schon regeln. Das ließ vorerst hoffen. Wer aber Putin genau zuhörte, kann heute keinen großen Unterschied zu seinen älteren Positionen festmachen. Die Kernforderungen des Kreml sind immer gleich geblieben - keine eigenen Streitkräfte für die Ukraine, keine Nato-Präsenz im Baltikum. Bis hin zur jüngeren Aussage, die Ukrainer und Russen seien ein Volk, daher sei es Ziel, die gesamte Ukraine in Besitz zu nehmen.

Putin agiert nicht so, wie Trump sich das gedacht hatte.

Und der US-Präsident weiß zunehmend weniger, wie er damit umgehen soll. Es irritiert ihn, will er doch einen "Deal" mit Putin. Trump versucht nun zu eskalieren, aber hofft wohl noch immer, man werde sich einigen, wenn er nun aber auch gleichzeitig droht mit defensiven und offensiven Waffenlieferungen, mit 100 Prozent Strafzöllen gegen Abnehmer russischen Öls. Ich rechne allerdings mit keiner Einigung. Putin und die Russen werden für die Ukraine bis zum Äußersten gehen.

Das Weiße Haus hat gerade erst eine Waffenlieferung an die Ukraine zurückgeholt, die schon bis Polen gekommen war. Unter anderem, weil offenbar die Bestände an Patriot-Munition in den USA nicht groß genug sind. Man wollte der Ukraine die 30 Raketen, die Teil dieser Lieferung waren, dann doch nicht überlassen. Nun kann man plötzlich ganze Systeme verkaufen?

Diverse Stimmen, vor allem von US-Militärs, haben in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder darauf hingewiesen, dass die US-Streitkräfte in anderen möglichen Eskalations- und Einsatzräumen zunehmend herausgefordert sind: die Ukraine beliefern, Israel unterstützen, die eigenen Militärbasen im Nahen Osten schützen, eine mögliche Eskalation mit China auf dem Radar haben…. Die Verteidigung der Ukraine, die Kriege in Gaza und gegen den Iran verschlingen enorme Mengen an Waffensystemen, vor allem Fliegerabwehr. Gerade mit Blick auf Fliegerabwehrsysteme gibt es Einschätzungen, dass nur ein Viertel der eigentlich notwendigen Kapazitäten überhaupt in den USA vorhanden ist. Es gibt also einen Engpass in den amerikanischen Arsenalen und die berechtigte Forderung, die Bestände dringend auszubauen.

Da wird ein Widerspruch deutlich - wenn man zu wenig Waffensysteme zur Verfügung hat, sind eigentlich auch keine übrig, um sie zu verkaufen, oder?

Die Ankündigung, Deutschland Patriots für die Ukraine zu verkaufen, entspricht Trumps Sichtweise: Wenn man gute Geschäfte machen kann, sind sicherheitspolitische Bedenken offensichtlich kein Thema. Seine einfache Botschaft an die US-Bevölkerung: "Wir liefern die besten US-Waffen der Welt und die Europäer bezahlen dafür."

Zuletzt hatte Trump der Ukraine zehn Patriot-Raketen, also nur die Munition, angeboten. Wenn selbst die USA so klamm sind mit Munition, hilft es der ukrainischen Armee aktuell überhaupt, weitere Systeme mit Radar, Launcher und Feuerleitstelle hinzuschicken? Wo soll die Munition herkommen?

Wir erleben auch hier, hinsichtlich der Maßnahmen von Präsident Trump, dieses laufende Wechselbad der Gefühle. Erst heißt es, Trump habe das Waffenpaket gestoppt, dann soll es Verteidigungsminister Hegseth ohne Trumps Wissen veranlasst haben, dann hört man, Trump lasse wohl doch wieder liefern. Allerdings hilft Patriot-Munition im Umfang von zehn Raketen nicht mal ansatzweise, um einen einzelnen dieser derzeit sehr schweren Angriffe abzuwehren. Am Mittwoch wurde schon wieder ein neuer Rekord gemeldet: russische Luftangriffe mit 741 Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen, am Donnerstag dann 415, am Samstag 623 - allein diese Woche insgesamt 1.800 Geran-2 Drohnenangriffe, dazu über 80 Raketen und Marschflugkörper sowie an der Front über 1.200 Gleitbomben.

Angesichts dieser Zahlen erstaunt es fast, dass die Ukraine nicht noch viel mehr Todesopfer täglich zu beklagen hat. Wie lässt sich das erklären?

Ein nicht unwesentlicher Teil dieser Drohnen, Marschflugkörper und Raketen, mit denen Russland allnächtlich angreift, treffen ihr Ziel. Das ist ein Teil der bitteren Wahrheit. Vor allem immer dann, wenn der Ukraine regional die Fliegerabwehrmunition ausgeht. Die Drohnen, Marschflugkörper und Raketen sind alle präzisionsgesteuert. Deren Ziele sind in den meisten Fällen keine Wohngebäude, sondern Einrichtungen der kritischen Infrastruktur oder der Rüstungsindustrie.

Und die sind meistens erfolgreich?

Immer wieder lassen sich auf Satellitenfotos der "Global Fire Map" der Nasa Brände nach einem Treffer identifizieren, zerstörte Umspannwerke oder Rüstungsbetriebe sind auf Videos zu sehen. Auch wenn die Ukraine sich sehr bemüht, Bilder dieser Treffer nicht an die Öffentlichkeit kommen zu lassen. Die Bilder getroffener Wohnanlagen zeigen die Ukrainer hingegen. Doch darauf liegt nicht das Hauptaugenmerk der russischen Armee, das ist nur jener Teil der strategischen Luftangriffe, der perfiden Terror ausübt. Zudem haben die Ukrainer ihren Luftschutz nach dreieinhalb Jahren Krieg gut organisiert. Viele Menschen suchen zeitnah Schutzräume auf, das rettet Leben.

Sehen Sie die westlichen Ukraine-Unterstützer nun Maßnahmen ergreifen, mit denen die Ukrainer den massiven russischen Luftangriffen begegnen können?

Durch diese Luftangriffe mit bis zu 700 Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen alle zwei bis drei Tage übt Russland enormen Druck aus und steigert die Angriffe in Quantität und Qualität. Möchte die Ukraine darauf adäquat antworten, müsste sie Angriffe mindestens in der gleichen Intensität oder einer noch höheren durchführen. Derzeit attackiert sie Russland mit Luftangriffen einer Intensität von 140 bis 200 Drohnen, etwa alle zwei bis drei Tage. Doch das reicht nicht, um den Gegner wirklich schmerzhaft treffen zu können. Darum bleiben die Russen bis jetzt auf der strategischen Ebene in der Initiative, behalten das Momentum. Soll sich das mal verändern, müssen die militärischen Lieferungen an die Ukraine signifikant zunehmen. Wir werden nun sehen, wie ernst es Trump tatsächlich meint.

Wie blicken Sie heute auf die Front?

Hier kommen wir zur operativen Ebene. Die Russen greifen weiterhin unbarmherzig entlang der gesamten Front an. Vor allem nordostwärts von Pokrowsk wird die Situation immer kritischer. Punktuell erreichen die Ukrainer durchaus auch Abwehrerfolge, wenn auch nicht im Schwergewicht. Im Norden ist es bei Sumy gelungen, das Hauptquartier eines wichtigen russischen Verbandes der 155. Marineinfanteriebrigade zu treffen, vermutlich mit Himars-Raketen. Einige hohe Offiziere wurden getötet.

Mit sichtbaren Folgen?

Tatsächlich war sofort erkennbar, dass in dem Abschnitt, wo die Brigade eingesetzt ist, die Ukraine ihre Gegenangriffe im Raum nördlich von Sumy erfolgreich vorantreiben konnte. Weiter ostwärts davon, im Raum zwischen Wowtschansk und Kupjansk, wo ein großer Bogen des ukrainischen Staatsgebiets nach Russland hineinreicht, haben die Russen zwei neue Frontabschnitte aufgemacht. Dort sind sie über die Grenze auf ukrainisches Territorium vorgestoßen. Zwar lokal begrenzt, aber dennoch muss die Ukraine ein weiteres Voranschreiten nun bekämpfen. Das kostet wieder Kräfte. Kräfte die der Ukraine im Donbass fehlen.

Wie sieht es im Mittelabschnitt aus, wo das Schwergewicht der Angriffe liegt?

Nordöstlich von Pokrowsk hängt die Front immer mehr über, fast in einer Art Doppelumfassung, wodurch die Stadt signifikant bedroht ist. Der zweite Teil der Umfassung passiert in Richtung Kostjantyniwka und Torezk. Auch dort gewinnt der russische Einbruch immer mehr an Raum.

Und im Süden?

Im Südabschnitt haben die Ukrainer zwar die russischen Vormärsche vorerst verzögern können, aber zwei bis drei Kilometer konnten die Russen angelehnt an den Dnepr in Richtung Norden aufmarschieren. Pro Tag fallen entlang der gesamten, über 1300 Kilometer langen Front 15 bis 20 Quadratkilometer an die Russen. In den vergangenen zwei Monaten waren das über 1000 Quadratkilometer, etwas mehr als die Insel Rügen. Die Ukraine ist entlang der gesamten Front gebunden und hat keine Gelegenheit, Reserven zu bilden, die sie an die Hotspots der Front bringen müsste. Sie könnte nur dann wirklich Fortschritte machen, wenn es ihr gelingen würde, dieses Dilemma zu durchbrechen, selbst in die Initiative zu gehen. Für eine nachhaltige Stabilisierung der Front bräuchte die Ukraine allein mindestens um die 300 Kampfpanzer. Davon ist sie weit entfernt, die Lage verschlechtert sich von Tag zu Tag. Darum blickt nun alles gespannt auf Trump. Werden wir nur Patriot-Lieferungen sehen, oder vielleicht tatsächlich auch weitreichende Marschflugkörperlieferungen und hohe Strafzölle auf Russlands Verbündete? Es liegt nun an Trump ernst zu machen.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

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